© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

Die Not alles Menschlichen
Sinnkrise der westlichen Kultur: Goethe, Konfuzius und Europas chronische Expansionsbestrebungen
Oliver Busch

Seit der Expansion Europas“, so Richard Wilhelm in seinen Betrachtungen zu „Ost-asien. Werden und Wandel des chinesischen Kulturkreises“ (1928), „finden wir auf der ganzen Erde einen immer sich wiederholenden Vorgang: die Europäer dringen in das Gebiet einer anderen, von ihnen als primitiv bezeichneten Kultur ein, sie finden Widerstand, den sie durch Waffengewalt niederschlagen, die europäische Zivilisation setzt sich als die überlegene durch, die Eingeborenen verlieren ihre eigene Kultur und werden proletarisiert, eine etwas vergröberte europäische Zivilisation breitet sich unter ihnen aus. Ein ungeheures Kultursterben ist die Folge dieses Hergangs, und man findet überall da, wo die brutal expansive europäische Kultur eine einheimische verdrängt hat, Geschmacksrohheit und Häßlichkeit anstelle von Eigenart und Natürlichkeit.“

Richard Wilhelm (1873–1930) glaubte diesen – heute erheblich radikalisierten, als „Globalisierung“ firmierenden – Prozeß kapitalistischer „Monotonisierung der Welt“ (Stefan Zweig) aus eigener Anschauung zur Genüge zu kennen. Der schwäbische Theologe und Sinologe war 1899 als Pfarrer in die junge deutsche Kolonie Tsingtau entsandt worden. Doch statt eifrig Chinesen zum Christentum zu bekehren, gab er sein Amt bald auf und tauchte in die viertausendjährige Kultur seines Gastlandes ein. Erst 1924 folgte der mittlerweile an der Universität Peking tätige Gelehrte einem Rückruf in die Heimat, an die Universität Frankfurt, wo der damals bedeutendste Vermittler des deutsch-chinesischen Kulturdialogs ein China-Institut einrichtete.

Wilhelm hatte im Reich der Mitte jedoch auch erlebt, daß der von ihm geschilderte Siegeszug der „westlichen Kulturform“ sich nicht automatisch „immer wiederholt“, sei doch in China erstmals die „Gewalt Europas“ gebrochen worden. Daran hätten die Europäer kräftig mitgewirkt, als sie 1914 zu ihrer weltpolitischen Selbstentmachtung schritten. Stärker aber als durch diesen „Bruderkrieg“ ist nach Wilhelms Überzeugung das Fundament von  Europas „Weltbeherrschung“ durch etwas anderes erschüttert worden: „Europa ist nämlich an sich selbst irre geworden. Das Wort vom Untergang des Abendlandes hätte nicht diesen ungeheuren Eindruck gemacht, wenn nicht eine entsprechende Stimmung schon vorhanden gewesen wäre.“ Nicht nur beim deutschen Kriegsverlierer und nicht erst mit dem Ende der vierjährigen Selbstzerfleischung sei jene „Kulturmüdigkeit“ aufgetreten, die Oswald Spengler als sicherstes Symptom für das Absterben der „faustischen Kultur“ des alternden Okzidents diagnostizierte.

Geistige Unsicherheit infolge kultureller Entwurzelung

Diese „Sinnkrise der westlichen Kultur“ kündigte sich lange vor dem Ersten Weltkrieg an. Bereits in den 1880ern teilte Nietzsches schrilles „Gott ist tot“ den meisten Zeitgenossen nichts Neues mehr mit. Entsprechend nahm die Begeisterung für die eigenen „westlichen Werte“, obwohl vor über hundert Jahren bei weitem noch nicht durch schwachsinnige Projekte wie die Einführung von „Geschlechtergerechtigkeit“ am Hindukusch diskreditiert, ausgerechnet im Zenit der imperialistisch-kolonialistischen Expansion Europas rapide ab. Ein schwindsüchtiges Selbstbewußtsein der „Kulturbringer“, das von ihnen Kolonisierten wie dem chinesischen Philosophen Ku Hung Ming (1857–1928) nicht verborgen blieb. Der habe, wie der das „Chinabild des Westens“ erforschende Literaturwissenschaftler Housheng Fang (Universität Xiamen) feststellt, in seiner 1911, auf Anregung Richard Wilhelms, ins Deutsche übersetzten Schrift „Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen“ befunden, daß Europa „seelisch stirbt“ (Wirkendes Wort, 1/2021). Waren-Fetischismus und maschinelle Rationalität hätten zu quälender „seelischer Unruhe“, ja zu „Auflösung des inneren Menschen“ geführt. Die industrielle Zivilisation, die nichts als Habgier, rastloses Begehren und Jagen nach materiellen Gütern offeriere, stifte nicht einmal in ihren Ursprungsländern einen Hauch von Sinn, geschweige denn in der traditionellen Kultur Chinas. 

Der zur menschlich reduzierten Existenz im „stählernen Gehäuse“ (Max Weber) der „Großen Industrie“ (Karl Marx) verurteilte Europäer und sein nordamerikanischer Homunculus sehnten sich danach, wie Ku Hung Ming glaubte, aus dem seine Gemütswelt ruinierenden maschinellen System auszusteigen, Unrast, Hetze und die geistige Unsicherheit infolge kultureller Entwurzelung hinter sich zu lassen. Dabei fühle man die vom Profitstreben als Selbstzweck verursachte „Not alles Menschlichen nirgends so verzweifelt wie in Deutschland“. Mithin scheine Alt-China gerade „vor den sehnsüchtigen Blicken deutscher Menschen“ auf. Sie würfen sich auf Sprache, Weisheit und Kunst dieser fernöstlichen Kultur, weil sie unabweisbare geistige Bedürfnisse befriedige, die das kapitalistische, alles Ethische durch das „Praktisch-Nützliche“ ersetzende System aus seinem Menschenbild rückstandslos getilgt habe.

Harmonie und Gemütsruhe sind wichtiger als Konsum

Zu ihrer kulturellen Regeneration empfahl Ku Hung Ming den „lieben Deutschen“ die Lektüre des weisen Konfuzius. Auch weil dessen Aneignung ihnen durch einen vertrauten Doppelgänger erleichtert werde: Johann Wolfgang von Goethe, den „Konfuzius von Weimar“. Den Dichterfürsten verbinde mit  Meister Kungfutse der optimistische Glaube, durch spirituelle Selbstvervollkommnung  eine „ordnungsmäßige Gesellschaft aus sich heraus“ entwickeln zu können. Dieser allseitig entfaltete harmonische Mensch, so wie ihn sich die beiden Weltweisen denken, erreiche in seiner „Gemütsruhe“ und nicht durch Konsum den höchsten Zustand von Kultur. Ohne derart sittlich verfeinerte Persönlichkeiten sei überhaupt keine „ideale Gesellschaft“ möglich. Als System praktischer Lebensweisheit und reine Sittlichkeits-Religion sei der Konfuzianismus Goethes areligiös nüchterner, moderat aktivistischer Lebensauffassung eng verwandt. Ebenso stimmten für den konservativen Konfuzianer Ku der deutsche Anhänger des aufgeklärten Absolutismus und der chinesische Lobredner der angestammten aristokratisch-patriarchalischen Ordnung in ihrer Verachtung für jene als Demokratie verkleidete „Pöbelherrschaft“ überein, mit der die Europäer den Rest der Welt beglücken wollten.

Das Tragische an Kus Goethe-Konfuzius-Synthese sei allerdings, wie Richard Wilhelm angesichts der nach 1918 auf Hochtouren laufenden europäischen „China-Mode“ beklagte, daß die traditionelle Gesellschaft Chinas genau in dem Augenblick der europäischen Zivilisation zu erliegen begann, als man in Europa von ihr das seelische Heil erwartete.

Das heutige China, das unter der Führung der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei seinen windungsreichen langen Marsch nach Westen antrat, steuert nach Einschätzung von Housheng Fang auf eine ähnliche Sinnkrise zu, wie sie in Europa seit Ende des 19. Jahrhunderts chronisch ist. Allein die Befriedigung materieller Bedürfnisse garantiere kein „Lebensglück“. Daher kündige sich nun eine Wiederbelebung des Konfuzianismus in China an. Der sei „in gewisser Hinsicht immer modern“, weil „das richtige menschliche Leben sittlicher Werte nicht entbehren kann“. Ob die kommunistische Staats- und Parteiführung auf solche Mahnungen reagiert, ist mehr als fraglich.

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