© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

Verfahrene Lektionen
Vor 75 Jahren fanden in Nürnberg die Hauptkriegsverbrecherprozesse gegen 24 hochrangige Repräsentanten des NS-Regimes statt
Karlheinz Weißmann

Am 22. Januar 1948 brachte die Zeit einen Artikel ihres Chefredakteurs Richard Tüngel. Unter der Überschrift „Nürnberger Recht“ hieß es: „Wir haben zu vielem, was in Nürnberg unter Verantwortung der Anklagebehörde geschieht, bisher geschwiegen. Wir haben geschwiegen zu dem, was sich in dem Zeugenflügel des Gerichts abspielt, wir haben geschwiegen zu den Drohungen und Einschüchterungen, denen Zeugen ausgesetzt sind und die unserer Gerichtsverfassung nicht entsprechen. Wir haben geschwiegen, als Zeugen uns berichteten, daß man sie veranlassen wollte, unrichtige Protokolle zu unterschreiben, die den Aussagen nicht glichen, für die man sie vereidigt hatte. Wir haben geschwiegen, obgleich wir wußten, daß unschuldige Zeugen monatelang in Haft gehalten worden sind.“ Tüngel ging so weit, die Nürnberger Verfahren mit den „Sondergerichten“ des NS-Regimes zu vergleichen und grundsätzliche Zweifel am Sinn des Vorgehens der Alliierten zu äußern. Das war insofern bemerkenswert, als die Zeit noch 1946 die Auffassung vertreten hatte, daß das Urteil des Internationalen Militärtribunals (IMT) im Hauptverfahren „zu den Grundsteinen der neuen deutschen Demokratie gehören“ werde.

Todesurteile überraschten weder Öffentlichkeit noch Angeklagte

Ein Meinungsumschwung, der durchaus etwas Typisches hatte. Im Auftrag der amerikanischen Militärregierung durchgeführte Erhebungen zeigten, daß während des ersten Nürnberger Prozesses etwa achtzig Prozent der befragten Deutschen an einen fairen Prozeß glaubten, siebzig Prozent alle Angeklagten für schuldig hielten und sechzig Prozent auch die in Frage stehenden Organisationen belangt wissen wollten. Eine Ursache dieser Haltung war der Schock angesichts des Ausmaßes der Verbrechen des Hitler-Regimes, das in Nürnberg enthüllt wurde. Wenn sich die Einstellung der Menschen in der Folgezeit deutlich änderte und der Vorwurf der „Siegerjustiz“ stärkere Zustimmung fand, hatte das weniger mit den von Tüngel angesprochenen Mißständen zu tun, mehr mit dem Gang der politischen Entwicklung, der deutlich machte, daß „Nürnberg“ eben nicht als Beginn einer neuen Epoche des Völkerrechts betrachtet werden konnte.

Genau das war aber die Legitimation für ein Vorgehen, das die Alliierten als revolutionären Akt der Rechtsgeschichte verstanden wissen wollten. Dementsprechend hatte der US-Chefankläger Robert H. Jackson am 21. November 1945 in seiner Eröffnungsrede zum Auftakt des Nürnberger Prozesses erklärt: „Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, daß die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben. Daß vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat.“

Grundlegend für das Verfahren gegen 24 führende Vertreter des NS-Regimes war das sogenannte Londoner Statut vom 2. August 1945. Der daraus abgeleitete Vorwurf lautete „Verschwörung“, Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen im eigentlichen Sinn und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, worunter vor allem die Ermordung, Versklavung und Verschleppung von Zivilisten verstanden wurden. Damit verknüpft war ein zweiter Prozeß, der feststellen sollte, ob bestimmte Organisationen – das Reichskabinett, die Spitze der NSDAP, die SS, die Gestapo, die SA sowie der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht – als solche und mithin auch die Mitgliedschaft in ihnen als „verbrecherisch“ zu betrachten sei.

Am 1. Oktober 1946 verurteilte das IMT lediglich das Führerkorps der NSDAP, die SS (mit Ausnahmen) und die Gestapo in diesem Sinn, während gegen die angeklagten Militärs und Beamten Strafen unterschiedlicher Härte verhängt wurden. Es ergingen zwölf Todesurteile: gegen Martin Bormann, Hans Frank, Wilhelm Frick, Hermann Göring, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Fritz Sauckel, Arthur Seyß-Inquart und Julius Streicher; wobei sich Göring der Vollstreckung durch Selbstmord entzog und der gesuchte, aber bereits verstorbene Bormann in Abwesenheit verurteilt wurde. Weiter gab es drei Verurteilungen zu lebenslanger und vier zu mehrjähriger Haft sowie drei Freisprüche, die Hans Fritzsche, Franz von Papen und Hjalmar Schacht betrafen. Die Hinrichtungen erfolgten durch den Strang am 16. Oktober 1946; die Bitten Keitels, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, und Jodls, Chef des Wehrmachtsführungsstabes, ihnen als Offizieren den ehrenvollen Tod durch die Kugel zu gewähren, fanden kein Gehör.

Die Todesurteile überraschten die Öffentlichkeit so wenig wie die Angeklagten. Anders lag der Fall im Hinblick auf die Freisprüche und das unterschiedliche Strafmaß, etwa die Verurteilung von Rudolf Heß zu lebenslanger Haft. Immerhin wurde hinreichend deutlich, daß Nürnberg weder dem entsprach, was sich Churchill und Roosevelt ursprünglich als „politische“ Lösung – gemeint war die summarische Liquidierung – oder Stalin als Schauprozeß nach sowjetischem Muster vorgestellt hatte. Trotzdem wuchs die Kritik. Dabei ging es in erster Linie um jene Geburtsfehler des Verfahrens, die je länger je deutlicher hervortraten: die Tatsache, daß das Gericht weder als unparteiisch noch als an der Wahrheitsfindung selbst interessiert gelten konnte, daß es Recht rückwirkend anwendete (ein Vorgehen, das die Vereinten Nationen 1948 zur Verletzung der Menschenrechte erklärten) und nicht willens war, nach dem Tu-quoque-Prinzip zu verfahren, das dieselbe Strafe für dieselbe Art des Verbrechens vorsieht.

Jedenfalls lehnten die Alliierten nicht nur die Einleitung von Verfahren durch deutsche Gerichte ab, wie sie die letzte Reichsregierung Dönitz vorbereitet hatte, sondern auch die Berufung von Juristen aus neutralen Staaten. Was den zweiten Punkt betraf, so war besonders schwerwiegend, daß man den Angeklagten untersagte, sich auf Befehle von Vorgesetzten zu berufen. Im vollen Bewußtsein, daß das Funktionieren jedes Staates und vor allem jeder Armee vom Funktionieren einer Hierarchie abhängt, in der Weisungen erteilt werden, die fraglos auszuführen sind, hatten die Vereinigten Staaten und Großbritannien im Vorfeld des Prozesses die entsprechenden Artikel ihrer Militärgesetzbücher getilgt, um sie prompt nach dessen Ende wieder in Kraft zu setzen. Denn selbstverständlich war ihren Repräsentanten in Nürnberg klar, daß die Berufung auf einen Befehl zum Beispiel die angeklagten Militärs nach üblicher Auffassung von jeder weitergehenden Verantwortung entband. 

Das Vorgehen ließ außerdem erkennen, daß man die Verteidigung hindern wollte, sich des Arguments zu bedienen, es werde mit zweierlei Maß gemessen. Ganz gelang das aber nicht, und in Nürnberg kamen nicht nur der Hitler-Stalin-Pakt und der Massenmord zur Sprache, den die Sowjets in Katyn begangen hatten, sondern auch einzelne Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung beziehungsweise die Genfer Konvention von seiten der britischen und der amerikanischen Streitkräfte, die systematische Bombardierung der deutschen Zivilbevölkerung während des Krieges sowie die Vertreibungsverbrechen und Deportationen, die nach dessen Ende fortdauerten.

Als „Geburtsstunde des Völkerstrafrechts“ definiert

Daß entsprechende Ausführungen nur ausnahmsweise Wirkung zeigten, änderte nichts daran, daß zeitgenössische Beobachter schon nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ahnten, daß im Zweifel keine der am IMT beteiligten Seiten willens war, die „Nürnberger Prinzipien“ einzuhalten. Der Kalte Krieg, der die folgenden Jahrzehnte bestimmen sollte, aber auch die blutige Entkolonisierung großer Gebiete Afrikas und Asiens haben in der Folge erhebliche Zweifel daran aufkommen lassen, daß in Nürnberg tatsächlich das „Weltgericht“ getagt hatte. 1970 stellte Telford Taylor, in Nürnberg Assistent Jacksons und dann Chefankläger der Vereinigten Staaten bei den Nachfolgeprozessen, angesichts des militärischen Vorgehens der USA in Südostasien die rhetorischen Fragen: „Hat sich die Führungsspitze der Vereinigten Staaten durch den Einsatz Hunderttausender Soldaten in Südvietnam, durch Bombardierungen Nordvietnams und durch den Einmarsch in Kambodscha ebenso schuldig gemacht wie Hitler und seine Generale bei dem Einmarsch in Polen, Belgien, Griechenland oder anderen Ländern, die durch den Eroberungsfeldzug der Nazis betroffen wurden? Wird Son My zusammen mit Katyn, Lidice, Oradour, Malmédy und anderen Stätten des Grauens in die Geschichte der Unmenschlichkeit eingehen?“ Um dann die Antwort zu geben: „Wir haben es irgendwie nicht geschafft, die Lektionen zu lernen, die wir in Nürnberg lehren wollten.“

Taylor ging es in erster Linie um die Kriegsverbrechen amerikanischer Soldaten, für die sie faktisch nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, aber mehr noch um die Bereitwilligkeit, mit der die Generalität wie die hohe Beamtenschaft Anordnungen ausführten, die eindeutig gegen Kriegs- und Völkerrecht verstießen. An dieser Lage hat sich bis heute nichts geändert. Trotzdem möchte man im Nürnberger Tribunal die „Geburtsstunde des Völkerstrafrechts“ (das Bundesministerium der Justiz) sehen. Sowohl den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wie den seit 2002 arbeitenden Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag hat man als Fortsetzung dessen betrachten wollen, was in Nürnberg begonnen wurde. Allerdings wird die eigentliche Übereinstimmung zwischen dem Damals und dem Heute dabei geflissentlich übergangen: die Tatsache, daß vor diesen Gremien niemals ein Sieger zur Verantwortung gezogen wurde und nie der Vertreter einer Macht ersten Ranges. Wem das nicht die Augen öffnet, der sei darauf hingewiesen, daß weder China noch Rußland, noch die USA das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet haben, geschweige denn bereit wären, einen ihrer Bürger nach Den Haag auszuliefern.

Fotos: Richterbank des alliierten Militärtribunals während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse 1946: Der Hitler-Stalin-Pakt, Katyn oder Kriegsverbrechen der Siegermächte wurden nicht thematisiert; Otto Stahmer (am Mikrofon), Verteidiger Hermann Görings, am 2. Verhandungstag: Churchill und Roosevelt wollten die NS-Führung „summarisch liquidieren“, Stalin einen Schauprozeß sowjetischer Prägung