© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

Kolonialismus verdrängt Holocaust:
Erinnerungspolitischer Wandel Karneval der Kulturen
(ob)

Geschichte lebt wieder in Deutschland“, sie sei präsent wie schon lange nicht mehr, werde wieder zum Gegenstand erbitterter, häufig polemisch geführter Auseinandersetzungen, freut sich der Historiker Sebastian Conrad (FU Berlin). Die Ursache dieser „Aufmerksamkeitsexplosion“ sieht Conrad in der gegenwärtig sich vollziehenden Ablösung der auf den Holocaust konzentrierten „Erinnerung I“ der Bonner durch die „Erinnerung II“ der Berliner Republik, die sich auf „koloniale Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt“ beziehe (Merkur, 8/2021). Dabei befinde sich jedoch die „Erinnerung an koloniale Herrschaft und Gewalttaten“ hierzulande „noch ganz am Anfang“. Bei dieser gedächtnispolitischen Neuausrichtung verdränge das „globalisierungskompatible“ Thema Kolonialismus den Holocaust auch deshalb aus der kollektiven Erinnerung, weil in einem Einwanderungsland, dessen Bevölkerung einen Anteil von „Menschen mit Migrationshintergrund“ von 25 Prozent aufweise, „die herkömmliche Nationalgeschichte nicht mehr der selbstverständliche Bezugspunkt“ sei. Zunehmend werde die „einheitliche kollektive Nationalerinnerung“ durch Geschichtsdeutungen ganz unterschiedlicher – „ethnisch, religiös, weltanschaulich, queer“ – Gruppen und damit durch einen „Karneval der Kulturen“ ersetzt. 


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