© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

Schlicht und einfach ein Unrechtsstaat
Wolfgang Welsch legt eine Geschichte des SED-Staates aus Sicht der Opfer kommunistischen Terrors vor
Jörg Bernhard Bilke

Im Herbst 1985 veranstaltete die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung eine Tagung zum 40. Jahrestag der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED am 21./22. April 1946. Im Eröffnungsreferat warnte der Ex-Kommunist Wolfgang Leonhard, Autor des Buches „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ (1955), die SPD-Politiker in Bonn eindringlich davor, den Lockungen der Ost-Berliner Kommunisten zu vertrauen und sich auf ihre Versprechungen einzulassen. Der Mann, der als Mitglied der „Gruppe Ulbricht“ 1945 von Moskau nach Ost-Berlin geflogen und 1949, noch vor der DDR-Gründung, nach Jugoslawien geflohen war, sprach aus Erfahrung.

Mehr als dreißig Jahre nach dem Mauerfall, der am 3. Oktober 1990 zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt hatte, veröffentlichte der einstige DDR-Häftling Wolfgang Welsch ein Buch mit dem Untertitel „Abrechnung mit der SED-Diktatur“. Der 1944 in Berlin geborene Journalist wurde 1964 nach einem gescheiterten Fluchtversuch zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, aber überraschend nach zwei Jahren freigelassen. Nach seiner zweiten Verhaftung wurde er 1971 von der Bundesregierung freigekauft und nahm 1972 in Gießen ein Studium der Soziologie auf. Fünf Jahre später wurde er promoviert, der Titel der Dissertation lautete: „Arbeitsweise, Aufgabenstellung und Zielsetzung des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR“.

Als Fluchthelfer konnte er danach 220 DDR-Bürger nach Westdeutschland ausschleusen, wodurch er erneut ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit geriet, das von 1957 bis 1989 vn dem Doppelmörder Erich Mielke geleitet wurde. Der versuchte ihn durch drei Mordanschläge, zuletzt 1981 in Israel, auszuschalten. In Wolfgang Welschs Buch „Ich war Staatsfeind Nr. 1“ (2001), das 2004 unter dem Titel „Der Stich des Skorpions“ verfilmt wurde, kann man die Einzelheiten nachlesen.

Bei einem derartigen Vorleben verwundert es nicht, daß anders als man es bei einem wissenschaftlichen Werk erwarten müßte, der Autor nicht immer sine ira et studio schreibt. Aber das schmälert den Erkenntnisgewinn für den Leser keineswegs, wenn sich der Ex-Häftling von seinen DDR-Erfahrungen motivieren läßt. Dieses Buch ist nicht mehr und nicht weniger als eine kritische Durchsicht der westdeutschen Deutschlandpolitik, die trotz aller „kleinen Schritte“, die den DDR-Gewaltigen „abgerungen“ wurden, gescheitert ist. Den Mauerfall 1989 haben nicht die Teilungsverwalter im Bonner „Ministerium für innerdeutsche Beziehungen“, die von den DDR-Verhältnissen kaum Ahnung hatten, bewirkt, sondern die Leipziger Demonstranten mit ihrem Ruf „Wir sind das Volk!“

Die politische Ausgangslage, die in diesem Buch beschrieben wird, ist eindeutig. Aus den vier 1945 gebildeten Besatzungszonen entstanden 1949 zwei deutsche Staaten: die aus freien, geheimen und demokratischen Wahlen hervorgegangene Bundesrepublik Deutschland und die SED-Diktatur, die sich hochtrabend „Deutsche Demokratische Republik“ nannte und die in vierzig Jahren nie demokratisch legitimiert war. In Ost-Berlin hatte eine Gruppe von stalinistischen Berufsrevolutionären die Macht ergriffen, bei tatkräftiger Unterstützung durch die russische Besatzungsmacht.

Gummiparagraph „Staatsfeindliche Hetze“ gegen die Opposition

Was Wolfgang Welsch mit diesem Buch seinen Lesern anbietet, ist eine Geschichte des SED-Staates aus Sicht der Opfer kommunistischen Terrors. In dieser Erziehungsdiktatur mußte der Angeklagte nicht irgendein „Verbrechen“ begangen haben, es genügte schon, daß er Angehöriger des zum Untergang bestimmten „Bürgertums“ war, gelegentlich nach West-Berlin zum Einkaufen fuhr oder „Feindsender“ wie den West-Berliner „Rias“ hörte, um nach dem Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. Dezember 1957 wegen der frei auslegbaren Delikte „staatsfeindlicher Hetze“, „Staatsverleumdung“ oder „staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme“ verhaftet und verurteilt zu werden. Mit diesem Gesetz schuf sich die Staatsmacht das juristische Instrumentarium, um die Opposition niederzukämpfen. 

In neun äußerst spannend zu lesenden Kapiteln wird hier aufgeblättert, was von der kommunistischen Machtergreifung 1949 bis zum Mauerfall am 9. November 1989 geschah. Überall, wo man es aufschlägt, bietet Welsch Aufklärung über einen zu Recht untergegangenen Staat. Die Geschichtslüge der DDR-Kommunisten, die schon den Schulkindern eingetrichtert wurde, in der DDR herrsche die „Arbeiterklasse“, die die „klassenlose Gesellschaft“ erschaffe, wurde am 9. November 1989 zur Makulatur erklärt.

Dieses Buch ist ein Gegenentwurf zur Entspannungs- und Beschwichtigungspolitik der Bundesregierung nach dem Schock des Mauerbaus 1961. Wolfgang Welsch nimmt niemanden von seiner Kritik an der Bonner Deutschlandpolitik aus, die einen Unrechtsstaat zum ebenbürtigen Partner erklärte. Das ging so weit, daß Erich Honecker, der oberste Vertreter dieses Systems, am 7. September 1987 in Bonn mit allen protokollarischen Ehren, die einem Staatsgast zustanden, von Bundeskanzler Helmut Kohl, einem demokratisch gewählten Politiker, empfangen wurde. Ein schauerlicher Vorgang, der den Unrechtsstaat aufwertete und die Opposition, zwei Jahre vor dem Mauerfall, verriet.

Wolfgang Welsch: Widerstand. Eine Abrechnung mit der SED-Diktatur. Lukas-Verlag, Berlin 2021, gebunden, 384 Seiten, 24,90 Euro

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