© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

Der Flaneur
Immer öfter im ICE
Claus- M. Wolfschlag

Der ICE nach Frankreich ist voll. Corona-Abstandsregeln existieren scheinbar nicht. Eine Schlange rempelt sich mit Rollkoffern durch den engen Gang. Junge Reisende campieren auf dem Fußboden. Ich finde noch einen Platz am Tisch. Mir gegenüber sitzt ein junges Paar. 30 mag sie sein, er womöglich älter, hier und da schon graumeliert. Die Vermutung: Deutsch, Großstadt, Akademiker. Doch liiert sind sie nicht. Sie berühren sich nicht, sondern stellen seltsame Fragen. 

Beide sind hübsch, aber breiten eine a-erotische, gehemmte Atmosphäre aus. Manchmal schaut er kurz zu ihr, sie starrt nur geradeaus in die Ferne, auf einer Schnitte Brot oder Obst aus ihrer Tupperdose kauend. Er will sie näher kennenlernen, das spüre ich, doch sie kommt ihm nicht entgegen. Ob es an ihm liegt? An mir, der gegenüber glotzt? Am Zug?

Fangt jetzt bitte nicht mit Veganismus oder dem Klimawandel an, denke ich.

Ein Taschenbuch von Hemingway liegt vor ihm auf dem Tisch, und sie fragt, ob er auch andere Bücher des Autors gelesen habe. Dann fragt sie, ob er es auch kenne, daß es wie der Verlust eines treuen Begleiters, eines Freundes sei, wenn man ein Buch nach längerer Zeit fertig gelesen habe? Schließlich reden sie darüber, „immer öfter“ Plastikabfall zu vermeiden. Geht doch einfach miteinander ins Bett und fangt jetzt nur nicht noch mit Veganismus oder dem Klimawandel an, denke ich. 

Rückfahrt. Wieder ist der ICE voll. Neben mich läßt sich ein Junge mit dunklem Teint fallen. Er muffelt. Ist er 15 oder 16? Ich verstehe die Frage kaum, ob der Zug nach Frankfurt fährt. „Hablas espanol?“ fragt er. „Inglés? I’m German“, antworte ich. „Love Germany, love Germany“, ruft er euphorisch und reicht die Faust zum Corona-Gruß. Aus Marokko sei er, Casablanca. 

Dann verschwindet er eine Weile. Sein ähnlich alter Kumpel fragt, wo er ist. Ich zucke mit den Schultern. Dann kommt er wieder. „Control? Control? No Money“, fragt er sich nervös umblickend. Dann verschwindet er. Später höre ich die Schaffner von „immer öfter“ und „arabisch“ sprechen. Ob sie von meinem Deutschlandfreund reden?