© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Der tiefe Fall der Union
Bundestagswahl: Konservative Mehrheiten dürfen nicht dauerhaft politisch unwirksam bleiben
Dieter Stein

Diese Bundestagswahl bietet Historisches: Erstmals stellte sich der amtierende Bundeskanzler nicht mehr der Wiederwahl. Das gab es noch nie. So fiel der Glanz des Amtsbonus auf den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz als Vizekanzler der Regierungskoalition. Seine Aufholjagd nahm Tempo auf, als die von den Medien hochgeschriebene Grünen-Chefin Annalena Baerbock über ihren gefälschten Lebenslauf und Plagiate in ihrem Buch stolperte. 

Maßgeblich für diese Wahl ist die historisch vernichtende Wahlniederlage von CDU und CSU. Mit 24,1 Prozent unterboten sie mit Abstand das bislang schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte um sieben Prozentpunkte: jene 31 Prozent, die Konrad Adenauer 1949 bei der ersten Bundestagswahl in der jungen Bundesrepublik eingefahren hatte.

Dieses totale Debakel der Union ist nicht allein dem glücklosen Kanzlerkandidaten Armin Laschet anzulasten. CDU und CSU leisteten es sich, arrogant spät klarzustellen, wer ins Rennen um die Nachfolge der ewigen Kanzlerin gehen sollte. Laschet hatte damit kaum Zeit, sich aus Merkels Schatten zu lösen. Schon der knappe Kampf um den Parteivorsitz im Vorjahr trug selbstzerstörerische Züge – übertroffen wurde dies nur noch durch den Dauer-Egotrip des in der Kandidatenkür unterlegenen CSU-Chefs Markus Söder, der bis zum Wahlabend keine Gelegenheit verstreichen ließ, um sich auf Kosten Laschets zu profilieren.

Gegenüber der konfus operierenden CDU/CSU wirkte die lange totgesagte SPD erstaunlich geschlossen, ihr Wahlkampf beängstigend professionell, sie trat kompakt auf. Wenn sich die SPD nun mit 25,4 Prozent als strahlender Sieger präsentiert, beeindruckt dies andererseits nur, solange man vergißt, daß sie 2017 mit 20,5 Prozent selbst ihr historisch schlechtestes Bundestagswahlergebnis eingefahren hatte. Dank des Desasters von CDU und CSU ist nun der Einäugige König.

Epizentrum des politischen Erdbebens dieser Bundestagswahl ist damit die pulverisierte Union. Es ist das Ergebnis der 16jährigen Kanzlerschaft Angela Merkels, die ihre Macht auf der systematischen Entkernung ihrer Partei gebaut hat. Sie hinterläßt die dünne Fassade einer einst großen bürgerlichen Kraft.

Mit ihrer abenteuerlichen, deutschen Steuerzahlern Billionen-Risiken aufbürdenden Euro-Rettung gab sie den Startschuß zur Gründung einer Partei, der es gelingen sollte, rasant in das von CDU und CSU verursachte politische Vakuum vorzustoßen: der AfD. Nach der Euro-Rettung folgte als nächster Brandbeschleuniger die rechtswidrige Grenzöffnung 2015, mit der Merkel Europa spaltete und die Briten endgültig aus der EU trieb. In Scharen liefen Wähler zur AfD über.

Während die AfD Landtag nach Landtag eroberte und 2017 auch als stärkste Oppositionspartei in den Bundestag einzog, brachte die Union nicht mehr die Kraft auf, Merkel vorzeitig zu entmachten und die Himmelfahrt ins Nichts zu stoppen. Halbherzige Vorstöße von Horst Seehofer oder dem wetterwendischen Söder versandeten und betonierten Merkels Machtstellung sogar noch. Ihre einstigen Kritiker mutierten zu willfährigen Paladinen. So zog Merkel ihre Partei, assistiert von einer opportunistischen Funktionärskaste, in den Abgrund – zuletzt damit, einem Nachfolger keinen Raum zur Profilierung mehr zu geben.

Neben der historischen Kuriosität des Nichtantritts der Amtsinhaberin überschattet die Corona-Pandemie die Wahl als Sonderlage. Die extrem hohe Zahl an Briefwählern, die sich teils Wochen vor dem Urnengang festlegten, verzerren das Bild. Auch ging in der Haltung zur Corona-Politik ein Riß durch alle politischen Lager. Hier ist übrigens zu vermuten, daß AfD-Politiker durch übertriebene Nähe zu „Querdenkern“ und überschießende Polemik gegen das Impfen mehr Wähler verschreckt als gewonnen haben. 

Wichtige Themen wie Migration, Risiken der Euro-Rettung, innere Sicherheit klammerten die Debatten in öffentlich-rechtlichen Medien weitgehend zugunsten der irrational aufgeblasenen Klimahysterie aus. 

Der erfolgreiche zweistellige Wiedereinzug der AfD mit 10,3 Prozent in den Bundestag ist angesichts der Gesamtlage respektabel – auch angesichts eines verbreiteten Medienboykotts, massiver Attacken von Linksextremisten auf Veranstaltungen und von Medien und Politik gebilligter Nötigung von Wirten, an die Partei an vielen Orten keine Räume mehr zu vermieten. 

An dieser Ausgangslage wird sich auf absehbare Zeit wenig ändern. Deshalb müssen der AfD Verluste von fast 20 Prozent ihrer Wähler gegenüber 2017 Kopfzerbrechen bereiten – in westdeutschen Stadtstaaten verlor sie sogar bis zu 35 Prozent, und selbst in Sachsen, wo sie dank der abstürzenden CDU fast flächendechend Direktmandate errang, büßte sie spürbar Stimmen ein.

Die AfD dürfte aufmerksam analysieren, was ihre hausgemachten Gründe dafür sind, warum Wähler teils in Scharen zu Freien Wählern, aber auch zur SPD abgewandert sind. Warum konnte die AfD auch nicht ansatzweise die erdrutschartigen Verluste der Union auf ihre Mühlen lenken, sondern gab sogar noch an die abstürzende Union ab? Und wie konnte die FDP geschickt mit maßvoller Kritik an Corona-Grundrechtseingriffen insbesondere bei Jungwählern reüssieren? 

Tröstlich ist die Halbierung der Linkspartei, die mit 4,9 Prozent ohne ihre drei Direktmandate gänzlich aus dem Bundestag geflogen wäre. Ihr Schicksal, die sich lange als „Volkspartei des Ostens“ inszenierte, kann als mahnendes Beispiel für die AfD dienen. Obwohl den SED-Erben der rote Teppich zu Regierungsbeteiligungen ausgerollt wurde, scheitern sie an ihren extremen Fliehkräften und einem nie aufgegebenen radikalen Wesenskern.

Vorläufig dürfen wir am wahrscheinlichsten eine Regierung mit einem Kanzler Olaf Scholz mit Grünen und FDP erwarten. Die theoretisch vorhandene Mehrheit aus Union, FDP und AfD bleibt eine irreale Schnapsidee. Daß diese Option bisher nicht einmal ansatzweise diskutiert werden konnte, ist ein wesentlicher Kern der politischen Krise. 

Die Union hat es verdient, nach 16 Jahren Dauerregentschaft auf die Oppositionsbank zu ziehen. Ob sie dort allerdings die Kraft zur Erneuerung aufbringt und sich dabei auch nur ansatzweise auf konservative Wurzeln besinnt, darf man bezweifeln. Tut sie es nicht, werden die Chancen der AfD weiter wachsen, die Union in Teilen zu beerben – wenn sie es richtig anstellt.