© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Ländersache: Schleswig-Holstein
Gefahren in der Tiefe
Paul Leonhard

Schleswig-Holsteins Umweltminister Jan Philipp Albrecht (Grüne) hat einen Traum: Meere ohne Munitionsaltlasten. Diesen hatten auch schon seine Amtsvorgänger, ebenso die Ministerpräsidenten, das Parlament, die anderen Ost- und Nordseeanrainer und insbesondere die Fischer. Mehr als 1,6 Millionen Tonnen Munition liegen allein auf deutschem Seegebiet im Boden: Minen, Bomben, Sprengkörper. 1,3 Millionen Tonnen in der Nordsee, 300.000 Tonnen in der Ostsee. Dazu kommen 5.000 Tonnen chemische Kampfstoffe – Senfgas, Tabun, Phosgen, arsenhaltige Stoffe. Allein auf einer Sandbank wenige Kilometer vor der Küste von Kiel liegen 35.000 Tonnen Seeminen und Torpedos in bis zu zwölf Meter Tiefe – Schleswig-Holstein, das Land zwischen den verseuchten Meeren.

Der Großteil der gefährlichen Altlasten wurde von den Alliierten nach Kriegsende versenkt. Wo die verseuchten Gebiete liegen, war nie ein Geheimnis. Bekannt ist auch, daß die Munition im Meer eine riesige tickende Zeitbombe ist. Nicht nur, weil immer wieder Minen auftauchen oder Phosphor an Land gespült wird und von Touristen mit Bernstein verwechselt wird, sondern weil aus den verrosteten Hüllen TNT austritt, dessen Abfallprodukte die Fischpopulationen schädigen.

Ist die exakte Ortung von Munition und ihre Bergung schon an Land eine teure Angelegenheit, so würde sie unter Wasser Milliarden kosten. Aktuell schaffen es Bund und Länder nicht einmal, den Treibstoff und Munitionsbestände aus exakt lokalisierten Wracks zu bergen. Die Industrie müsse die Technik für große Bergungseinsätze bereitstellen, forderte jetzt Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) auf der „Kiel Munition Clearance Week“. Diese Fachkonferenz hatte der Kieler Unternehmer Jann Wendt organisiert und mehr als 500 internationale Experten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft eingeladen.

Wendt forderte auf der Konferenz von der Politik, endlich „in eine geordnete Munitionsräumung“ einzusteigen: „Wir brauchen finanzielle Zusagen.“ Doch die Landesregierung verweist auf den Bund und fordert ihrerseits „eine faire Lastenverteilung“. Praktisch ist Deutschland bisher noch nicht einmal imstande, die vorhandenen Daten zu einem nationalen Munitionskataster See zusammenzufassen, wie es jetzt Minister Albrecht fordert.

Geoinformatiker Wendt hat mit seiner Firma Egeos eine Software entwickelt, die selbständig aus historischen Dokumenten Positionsdaten, Eigennamen, Munitionsarten und Wetterdaten herauslesen kann. Die Werft ThyssenKrupp Marine Systems baute eine automatisierte Plattform, mit der Munition geortet, geborgen, zerlegt und entsorgt werden kann. In einem Pilotprojekt soll sie in der Kieler Bucht getestet werden, allerdings frühestens in zwei Jahren, wenn denn der Staat die Anschubfinanzierung von 100 Millionen Euro übernimmt.

Über die verbleibende Zeit sind sich Experten und Politiker einig: 30 Jahre, dann ist der Großteil der Munition durchgerostet und Nord- und Ostsee droht eine ökologische Katastrophe. Sind die giftigen Sprengstoffe erst einmal ausgetreten, lassen sie sich nicht mehr einfangen.