© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

„Ein Weiter-so führt ins Verderben“
Bundestagswahl: Die Union fährt ihr schlechtestes Ergebnis aller Zeiten ein / AfD-Spitze mit unterschiedlicher Interpretation des eigenen Abschneidens
Jörg Kürschner

Nach dem Absturz der Unionsparteien und der Linken bei der Bundestagswahl deuten die Signale auf eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP sowie eine Neuorientierung des bürgerlichen Lagers, das die am Sonntag geschwächte AfD nicht aus den Augen verlieren will. Zunächst trafen sich Grüne und FDP als strategische Sieger zu „Vorsondierungen“, bevor sie mit der möglichen Kanzlerpartei verhandeln. Ob die neue Regierung noch vor Weihnachten vereidigt wird, wie angestrebt, ist offen.

Weniger als 24 Stunden nach Schließung der Wahllokale brauchte es für einen drastischen Stimmungswandel in der CDU. Hatte Kanzlerkandidat Armin Laschet noch am Wahlabend einen „klaren Auftrag“ für sich reklamiert, mußte er sich am Montag in die Defensive flüchten. „Natürlich weiß ich auch, daß ich meinen persönlichen Anteil an diesem Wahlergebnis habe.“ Laschet sprach nur noch von einem Regierungsangebot für eine „Zukunftskoalition“, das er Grünen und FDP machen werde. Traumziel Jamaika. Ein Strohhalm im CDU-Abwärtsstrudel.

Denn nach der ersten Schockstarre war massive Kritik an Laschet aus den eigenen Reihen laut geworden. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sprach von einem Desaster, ein Weiter-so führe ins Verderben. Ellen Demuth, enge Mitarbeiterin von Norbert Röttgen, der Laschet im Rennen um den Parteivorsitz unterlegen war, nahm kein Blatt vor den Mund: „Armin Laschet, Sie haben verloren. Bitte haben Sie Einsicht. Wenden Sie weiteren Schaden von der CDU ab und treten Sie zurück.“ Röttgen selbst sieht die CDU in „existentieller Gefahr“, ihren Status als Volkspartei zu verlieren. Es müsse „ein Ende haben“, daß Entscheidungen „gegen die Mehrheit der eigenen Mitglieder“ getroffen würden, mahnte Kretschmers Sachsen-Anhalter Kollege Reiner Haseloff.  

Stumm blieb hingegen CDU-Senior Wolfgang Schäuble, der seinen Posten als Bundestagspräsident im von 709 auf 735 angewachsenen Parlament verlieren wird. Traditionell besetzt die stärkste Fraktion den Posten. Schäuble hatte seinen Schützling Laschet brachial gegen CSU-Chef Markus Söder durchgesetzt. 

SPD-Spitze hat Vorbehalte gegen die Liberalen

Auch Laschets Dauerkritiker aus der CSU meldeten sich zu Wort. Söder ging auf Distanz zum gemeinsamen Kanzlerkandidaten: „Die Union landet auf Platz zwei und nicht eins!“ Daraus ergebe sich kein automatischer „Anspruch auf die Regierungsführung“. Die Union könne aber ein Angebot für Gespräche machen, ohne sich anzubiedern.

Laschets Jamaika-Anspruch wurde – nicht überraschend – vom SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz freundlich, aber bestimmt in Frage gestellt. Die Wähler hätten SPD, Grüne und FDP gestärkt. Dies sei ein „sichtbarer Auftrag, die Union solle jetzt nicht mehr in der Regierung sein, sondern in die Opposition gehen“. Für das geplante „sozial-ökologisch-liberale Bündnis“ benannte Scholz sogleich eine Verhandlungsdelegation, darunter die beiden dem linken Flügel zugerechneten Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Beide sind geprägt durch starke Vorbehalte gegenüber der FDP, die Scholz hingegen seit einiger Zeit umschmeichelt, zuletzt am vergangenen Montag, als er an die „erfolgreichen sozialliberalen Regierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt“ erinnerte. 

Immer wieder hat der als Fraktionsvorsitzender bestätigte FDP-Chef Christian Lindner seine Präferenz für eine Koalition mit der Union betont, auf die Achse mit Laschet verwiesen, die seit der Regierungsbildung in Nordrhein-Westfalen 2017 bestehe. Steuererhöhungen und ein Aufweichen der Schuldenbremse, wie von SPD und Grünen gefordert, seien auch nach der Wahl nicht akzeptabel. Die beiden Politiker verstehen sich gut, telefonierten noch am Wahlsonntag miteinander. Mit Seitenblick auf die Grünen verweisen die Liberalen stolz auf die Erstwähler, die sie zu 23 Prozent gewählt hätten, trotz der „Fridays for Future“-Bewegung.

Die Ökopartei gab sich nach der Wahl bescheiden, wohl auch weil ihr Ergebnis mit der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückgeblieben war. Doch in die Rolle des Kanzlermachers, neben der FDP, haben sich die Parteichefs schnell hineingefunden. „Mit dem Wahlabend bricht tatsächlich eine neue Zeitrechnung in Deutschland an“, meinte Habeck mit klarer Präferenz für ein Ampel-Bündnis. In der Partei sehen ihn viele als Vizekanzler in der neuen Regierung.

Gedankenspiele, von denen die AfD Lichtjahre entfernt ist. Ihre Position als stärkste Oppositionsfraktion wird sie verlieren, vermutlich an die Union, soviel ist sicher. Unklar bleibt der weitere Kurs der Partei, wie ein gemeinsamer Auftritt der Partei- und Fraktionsspitze überdeutlich illustrierte. Gemeinsam? Unterschiedlicher konnte der Auftritt des Spitzenduos Alice Weidel und Tino Chrupalla einerseits und Bundessprecher Jörg Meuthen andererseits kaum ausfallen. Bei Stimmenverlusten von fast 20 Prozent der Wähler sei es „kein gutes Ergebnis“, da nur die „eigene Blase“ bedient worden sei, ohne neue, etwa von der Union enttäuschte Wähler zu gewinnen. Worauf Weidel sogleich konterte: „Ich lasse mir das Ergebnis nicht schlechtreden, von niemandem.“ Die AfD habe sich etabliert. Jetzt komme es auf eine optimale Aufstellung der neuen Bundestagsfraktion an. 

„Müssen schauen, in welche Richtung sich die Partei bewegt“

Inhaltlich machte Meuthen den Dissens an dem auf dem Dresdner Parteitag mit Zweidrittelmehrheit beschlossenen EU-Austritt (Dexit) fest. Für eine solche Forderung sei die bürgerliche Mitte nicht ansprechbar. Widerspruch Chrupalla. Daß man die AfD „wegen des Dexit-Beschlusses“ nicht wählen könne, habe er von keinem Wähler gehört. Bei einer späteren Pressekonferenz zur Wahlanalyse mehrerer Umfrageinstitute gab Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach auf Nachfrage zu bedenken, daß „die deutsche Bevölkerung in Europa verankert ist“. Über die Westbindung bestehe ein breiter Konsens. 

„Wir müssen schauen, in welche Richtung bewegt sich diese Partei, kommen wir da auf einen gemeinsamen Nenner oder kommen wir das nicht?“ stellte Meuthen fest, der im Oktober bekannt geben will, ob er auf dem Parteitag Mitte Dezember in Wiesbaden erneut als Bundessprecher antreten wird.

Jedenfalls hat die AfD die Linke als Partei des Ostens abgelöst, 16 Direktmandate sowie Platz eins in Sachsen und Thüringen unterstreichen dies. Im Westen allerdings schaffte es die Partei nirgends über zehn Prozent. Auch nicht in Niedersachsen, wie der dortige Spitzenkandidat Joachim Wundrak gegenüber der JUNGEN FREIHEIT ernüchtert feststellte. Angesichts der allseits spürbaren Unzufriedenheit habe er mit einem besseren Ergebnis gerechnet. 

Diese Hoffnung hatte auch die Linkspartei, die mit 4,9 Prozent die Fünfprozenthürde gerissen hat, zum zweiten Mal nach der Wiedervereinigung. Daß die SED-Nachfolger trotzdem in Fraktionsstärke in den Bundestag zurückkehren, liegt an einer Sonderregelung im Wahlrecht. Danach erhalten Parteien, die mindestens drei Direktmandate gewinnen, so viele Sitze, wie es ihrem Zweitstimmenanteil entspricht – und dies eben auch, wenn sie unter fünf Prozent geblieben sind. Dank zweier Direktmandate in Berlin und eines in Leipzig können 39 Linken-Parlamentarier im Plenarsaal Platz nehmen. Wahrscheinlich direkt neben dem fraktionslosen Stefan Seidler, der als Vertreter des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) dem neuen Bundestag angehören wird. Die Partei der friesischen und dänischen Minderheit ist von der Fünfprozenthürde befreit und kann nur in Schleswig-Holstein gewählt werden.

Foto: CDU-Kandidat Armin Laschet mit falsch gefaltetem Wahlzettel: „Sie haben verloren“