© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Schotten dicht
Befestigte Grenzen haben weltweit wieder Konjunktur: Eine nüchterne Übersicht über Zäune und Stacheldraht in Europa
Christian Rudolf

Polen befestigt seine Grenze zu Weißrußland (Belarus). Litauen zieht einen Zaun. Das gleiche tun die Letten. Alle drei Staaten sahen sich gezwungen, schnell zu handeln und für die Gebiete an den EU-Außengrenzen den Ausnahmezustand zu verhängen: Die Regierungen in Warschau, Wilna und Riga werfen dem Minsker Machthaber Alexander Lukaschenko unisono eine zynische hybride Kriegsführung mittels Tausender Migranten vor. Ziel: Destabilisierung der EU. Am Montag sprach Polens Innenminister Mariusz Kamiński von einer „ungewöhnlich angespannten Situation“ an der Grenze und führte Provokationen durch weißrussische Uniformierte an. Diese würden Feuerwerkskörper über die Grenzlinie werfen oder für die polnische Seite deutlich sichtbar ihre Waffen durchladen. Linksgerichtete polnische Pro-Flüchtlings-Aktivisten seien durch den weißrussischen Geheimdienst gesteuert. Litauens Präsident Gitanas Nausėda forderte vergangene Woche die Vereinten Nationen auf, „bei der Lösung der von Minsk ausgelösten Krise der illegalen Migration an der Grenze unseres Landes zu helfen“.

Zäune und Sperranlagen an Staatsgrenzen haben wieder Konjunktur. Auch in Europa. Der Grenzexperte Martin Wagener (siehe Seite 3) ermittelte weltweit 70 bestehende zwischenstaatlich wirkende Befestigungsanlagen. Die meisten davon existieren im Nahen Osten, in Süd- und Ostasien. Als bekannteste darf wohl die Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea gelten. Die meisten, nämlich sechs Sperrsysteme betreibt Israel. Hier eine (unvollständige) Übersicht über Grenzanlagen in Europa und der Türkei: vom einfachen Maschendrahtzaun bis hin zu Panzergräben.





Ungarn

EU-Außengrenze

Grenze mit Serbien 175 Kilometer

Grenze mit Kroatien 329 Kilometer

Im Sommer der Masseneinwanderung über die Ba­l­kanroute 2015 zog Ungarn zwischen Juli und September einen provisorischen Zaun an der Grenze zu Serbien über die volle Länge. Die Anlage hat eine Krone aus Stacheldraht, der auch gestapelt vor dem Zaun angebracht ist. Im Frühjahr 2017 ließ die Regierung innerhalb weniger Monate einen weiteren Sperrzaun im Abstand einiger Meter errichten: drei Meter hoch, mit Reflektoren, Sensoren sowie mit Wärmebildkameras und Nachtsichtvorrichtungen versehen. Zeitweise überwachten 3.000 Grenzpolizisten den vorgelagerten Grenzraum. Die zwei Systeme in Kombination erwiesen sich als hochwirksam gegen illegale Grenzübertritte. Die ungarisch-kroatische Grenze folgt zu zwei Dritteln dem unwegsamen Verlauf der Drau sowie der Mur. Eine Strecke von 41 Kilometern zäunte Ungarn im Herbst 2015 innerhalb weniger Wochen ab.





Litauen 

EU-Außengrenze

Grenze mit Weißrußland 679 Kilometer

Grenze zur Russischen Föderation (Königsberg) 261 km

299 Grenzkilometer verlaufen durch Gewässer

Seit dem 2. Juli hat Litauen den nationalen Notstand ausgerufen. Der Grund: In diesem Jahr sind 4.163 irreguläre Migranten in das Land eingedrungen. Das sind mehr als 55mal so viele wie 2020. Fast alle überschritten die litauisch-weißrussische Grenze, 2.805 davon aus dem Irak (Stand Dienstag). Im August begann Wilna mit Vorbereitungen zum Bau eines Schutzzauns, der 508 Kilometer lang und 2022 fertig sein soll. Der Zaun soll mindestens drei Meter hoch sein, aus Metall bestehen, widerstandsfähig und wetterbeständig sein und teilweise in den Boden eingelassen werden. Vorläufige Kosten: 152 Millionen Euro (Staatlicher Grenzschutzdienst der Republik Litauen).





Lettland 

EU-Außengrenze

Grenze zu Weißrußland 173 Kilometer

Grenze zur Russischen Föderation 276 Kilometer

Am 10. August verhängte Riga den Ausnahmezustand an vier Grenzverwaltungsabschnitten zu Belarus, darunter Dünaburg. Er soll bis zum 10. November gelten. Laut Innenministerium sind mit Stand vom 9. August 343 Personen illegal auf lettisches Staatsgebiet vorgedrungen. Allein zwischen 1. Juni und 9. August griffen Beamte 220 Eindringlinge auf. Der Ausnahmezustand gibt dem Grenzschutz das Recht, eine Person, die illegal die Grenze überschritten hat, mit Gewalt und anderen Mitteln unverzüglich zurück über die Grenze zu bringen. Täglich wird eine niedrige zweistellige Zahl von Personen an der Einreise gehindert. Diese Woche wird zunächst ein fünf Kilometer langer Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Belarus installiert. Insgesamt soll ein temporärer Stacheldrahtzaun an 18 verschiedenen Grenzabschnitten mit einer Gesamtlänge von 37 Kilometern errichtet werden. Kosten: 1,7 Millionen Euro. 





Polen 

EU-Außengrenze

Grenze zu Weißrußland 418 Kilometer

Ende August begann die polnische Armee im Bezirk Podlachien mit dem Bau eines 2,5 Meter hohen Zauns an der grünen Grenze zu Belarus. Bereits im Juli war auf einer Länge von 130 Kilometern ein Stacheldrahtverhau verlegt worden. Der Zaun als zweite Barriere besteht aus drei Lagen Ziehharmonika-Stacheldraht. Die Pfähle stecken über einen Meter tief in der Erde. Auf der Außenseite liegt Stacheldraht in drei Schichten übereinander, was den Zugang zum Zaun erschwert. In einer ersten Phase wird der Grenzzaun auf 150 Kilometern Strecke gebaut. Ein weiterer fast 100 Kilometer langer Abschnitt ist geplant. Mit dem Bau von Schanzkörben an den Grenzabschnitten ist am Montag begonnen worden. Ein Armeekontingent von mittlerweile 2.400 Soldaten unterstützt die Grenzwache. Zwischen dem 1. August und dem 26. September habe der polnische Grenzschutz mehr als 9.400 illegale Grenzgänger angetroffen, so Innenminister Mariusz Kamiński. Ob der am 2. September für das Grenzgebiet zu Belarus verhängte Ausnahmezustand um 60 Tage verlängert wird, stand bei Redaktionsschluß noch nicht fest.





Ukraine 

Grenze zur Russischen Föderation: Land 1.974 km, Meer 321 km

Ostgrenze nicht vollständig unter der Kontrolle der Regierung

Wegen der russischen hybriden Kriegsführung gegen die Ukraine beschloß Kiew 2014 den Bau von militärischen Befestigungsanlagen entlang seiner Grenze zur Russischen Föderation – Zäune mit Stacheldraht, Anti-Panzer- und Schützengräben, Beobachtungstürme. 2015 war Baubeginn. Problematisch ist die Situation im äußersten Landesosten und auf der Krim: Die Regierung in Kiew hat wegen des anhaltenden Krieges im Donbass keine Kontrolle über die dortige Staatsgrenze, genausowenig wie über die Meergrenze der von Rußland annektierten Halbinsel Krim. Das Projekt, auch „die Mauer“ genannt, kommt nur schleppend voran. 400 Kilometer Panzergräben, 100 Kilometer Zaun und 70 Kilometer Stacheldraht mit Schwerpunkt in den Gebieten Charkiw und Tschernihiw seien fertig, informierte der Grenzschutzdienst im Mai. Kritiker bezweifeln die Sinnhaftigkeit des Unterfangens, für das Kiew die Geldmittel fehlen. Die zur Absicherung notwendige Hochtechnologie könne wegen des geringen Budgets gar nicht beschafft werden. Im Kriegsfall wären die Panzersperren für russische Pioniere keine Hürde.





Türkei 

Grenze zu Syrien 899 Kilometer

Grenze zum Irak 367 Kilometer

Grenze zum Iran 560 Kilometer

Ankara will an der Grenze zum Iran die Mauer weiter ausbauen. Den bisher errichteten 220 Kilometern Mauer sollen weitere 241 Kilometer hinzugefügt werden, sagte Innenminister Süleyman Soylu Mitte des Monats bei einer Sitzung des Migrationsrats. Die Türkei habe seit 2016 die unerlaubte Einreise von 2,32 Millionen Migranten über die Ost- und Südgrenzen verhindert. 

Die Grenze zum Bürgerkriegsland Syrien, an der es 2015 zu Provokationen durch IS-Kämpfer kam, hat die Türkei durch eine mehrere hundert Kilometer lange Mauer sichern lassen: drei Meter hohe Betonsperr­elemente, ein Meter Stacheldrahtkrone, über 120 bemannte und unbemannte Wachttürme an neuralgischen Punkten und ein Kolonnenweg. Technisch ist die Grenze stark ausgerüstet: Wärmebildkameras, Überwachungsradar auch zur Drohnenerkennung, ferngesteuerte Waffensysteme, akustische und seismische Sensoren, Störsender. Sie soll illegale Migranten abhalten, Schmuggel und das Einsickern von Terroristen unterbinden. Die syrische Regierung protestierte mehrfach gegen das Bauwerk. 2018 war diese Mauer bereits 750 Kilometer lang. Damit gilt die Barriere an der türkischen Südgrenze als die drittlängste der Welt nach der Chinesischen Mauer und der US-Grenzmauer zu Mexiko.





Griechenland 

EU-Außengrenze

Landgrenze zur Türkei 192 Kilometer

Die griechische Landgrenze zur Türkei verläuft am Evros, mit Ausnahme eines 12,5 Kilometer kurzen Abschnitts, wo türkisches Territorium nahe der Stadt Edirne diesseits des Flusses liegt (Reportage JF 12/20). 2012 sperrte Griechenland als erster Staat in Europa in Reaktion auf die irreguläre Masseneinwanderung einen neuralgischen Grenzverlauf ab. Das bis zu vier Meter hohe Stahlgittergerüst ist zum Ausland hin mit Stacheldraht vor Annäherung geschützt. Die Grenzpatrouillen verwenden Wärmebildkameras. Die Abhaltewirkung des Zauns war so effektiv, daß sich der Migrationsstrom vollständig verlagerte – Schleuser führten die Migranten über die Ägäis.





Bulgarien

EU-Außengrenze

Grenze zu Griechenland 472 Kilometer

Grenze zur Türkei 223 Kilometer

Während die bulgarische Grenze zu Griechenland unbefestigt ist, hat Sofia die EU-Außengrenze zur Türkei auf voller Länge abgezäunt. Hintergrund: der Ansturm irregulärer Einwanderer vor allem aus Syrien. Durch Bulgarien verläuft eine der wichtigsten Routen für Nahost-Migranten. Zwischen 2013 und Ende 2017 ließ die Regierung einen bis zu 3,5 Meter hohen massiven Sicherheitszaun mit Stacheldrahtkrone errichten und einen Postenweg anlegen. Auf der Außenseite ist der Zaun auf voller Breite mit Stacheldrahtrollen gespickt. Die Anlage, deren Länge mit 201 Kilometern angegeben wird, wurde jedoch schlecht unterhalten und ist nicht mehr voll funktionstüchtig. Im August verkündete Sofia, den Grenzschutz verstärken zu wollen, da nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban die Zahl aufgegriffener Migranten aus Afghanistan steige.





Slowenien

EU-Binnengrenze, Schengen-Grenze

Grenze zu Kroatien 600 Kilometer

Mit einem zwei Meter hohen Paneelzaun mit Y-Krone sichert Slowenien seit Herbst 2015 seine grüne Schengen-Außengrenze auf einem Abschnitt von 185 Kilometern ab, um die Balkanroute zu schließen. Streckenweise wird die Grenze durch mehrlagige Stacheldrahtbewehrungen markiert. Die Grenzwache hält Metalltore an den Autobahnübergängen bereit.





Österreich

EU-Binnengrenze

Grenze zu Slowenien 299 Kilometer

Wegen der Migrationskrise 2015 verstärkte Wien den Grenzschutz durch mehr Patrouillen an der Südgrenze zu Slowenien. Mehr als einen Maschendrahtzaun von 4,4 Kilometern Länge hat Österreich nicht gebaut. Das kleine Stück am Grenzübergang Spielfeld, Ende 2015 fertiggestellt, ist zwei Meter hoch und blieb ohne Stacheldraht. Sollte sich der Migrationsdruck auf die Grenze wieder einmal erhöhen, könnten Sperr­elemente auf weiteren 20 Kilometern innerhalb von zwei Tagen aufgestellt werden. Stacheldraht werde in Containern bereitgehalten. „Es geht um eine geordnete Einreise und nicht um eine Sperre“, erklärte Kanzleramtsminister Josef Ostermayer damals. Heute ist der Zaun löchrig: um Wanderern die Wege zu erleichtern.