© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Auf Arrivederci folgt Bonjour
Italiens Migrantenkrise: Die Küstenstadt Ventimiglia ist Dreh- und Angelpunkt für die Weiterreise nach Frankreich / Zweiter Teil der Reportage
Hinrich Rohbohm

Das Ritual ist an jedem Abend das gleiche: Wenn es dunkel wird, treffen sich Schwarzafrikaner auf den Treppenstufen vor dem Bahnhof von Florenz, um sich auszutauschen. Einige kommen schon seit Monaten hierher, andere sind erst seit ein paar Tagen dabei. Und wieder andere sieht man von einem Tag auf den anderen nicht mehr wieder. 

„Es ist ein Kommen und Gehen“, sagt uns einer aus der Gruppe. Manche von ihnen haben in Florenz eine vorübergehende Bleibe gefunden. Andere schlafen auf der Straße, wollen weiter.“ Weiter Richtung Frankreich, wie sie sagen. Zunehmend stellt sich im Verlauf unserer Recherchen heraus: Auch wer letztlich nach Deutschland möchte, bevorzugt diese Route. Der Weg über den Brenner nach Österreich? „Zu viele Kontrollen und zu gefährlich“, sagen sie hier. Die hohen Berge, die Kälte, das schwierige Gelände. 

Viele der hier zusammenkommenden Zuwanderer stehen über Handy und Internet in Kontakt mit anderen Migranten, die bereits weiter nach Norden gezogen sind. Auch jetzt starren einige auf ihr Mobiltelefon, empfangen Nachrichten von ihren Familien in Afrika oder von potentiellen Helfern. Es zeigt sich: Die Migranten manchen sich längst nicht mehr in großen Gruppen auf ihren Weg nach Norden. Zumeist sind sie zu zweit oder zu dritt, oft reisen sie auch allein auf eigene Faust. „Nehmt ihr den Zug?“ Einer aus der Gruppe schüttelt den Kopf. „Die meisten gehen zu Fuß.“– „Die ganze Strecke bis Frankreich?“– „Wenn es sein muß, ja“, antwortet der Mann. 

Sie wollen nach Ventimiglia, einer italienische nKüstenstadt an der Grenze zu Frankreich. Andere versuchen über die Berge nach Frankreich zu gelangen. Über kleine Orte wie Oulx, Claviere, Bardonecchia oder Montgenèvre in den italienisch-französischen Alpen. An all diesen Orten werde zwar auch stark kontrolliert und zahlreiche Migranten würden von den französischen Grenzschützern aufgegriffen, aber der Weg über die Alpen sei dort leichter. 

NGOs lotsen illegale Einwanderer durchs Gebirge nach Frankreich

Trifft es zu, was die Männer von Florenz erzählen, dann sind Nichtregierungsorganisationen neben dem Mittelmeerraum auch in den Alpen aktiv und lotsen illegale Zuwanderer durch das Gebirge über die Grenze nach Frankreich. „Es werden auch Leute im Kofferraum von Autos rübergebracht“, sagt uns ein Senegalese. Wir fahren mit dem Zug weiter Richtung Norden bis nach Verona. Auch hier erzählen uns Migranten: „Wir wollen an die Grenze zu Frankreich, von dort nach Deutschland oder England.“ 

Einige der Zuwanderer versuchen den Güterbahnhof von Verona zu nutzen, um unter Planen versteckt in die Bundesrepublik zu gelangen. Ein Unterfangen, das meistens scheitert und bereits des öfteren mit dem Leben bezahlt wurde. Im Gegensatz zu den Jahren zuvor sind überraschend wenige Migranten rund um den Bahnhof von Verona anzutreffen. Warum das so ist, erfahren wir erst später. Und auch hier wird deutlich: Nur wenige nutzen die Regionalzüge, und wenn, dann eher in Richtung Westen als nach Norden. 

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Bussen. Fuhren in den Jahren zuvor zahlreiche Zuwanderer mit Flixbussen, um sich Richtung Mitteleuropa aufzumachen, so kommt dies nun lediglich vereinzelt vor. In den grünen Bussen erfolgen zudem nach wie vor Ausweiskontrollen vor dem Einstieg. Kontrollen gibt es auch weiterhin bei der Abfahrt von Regionalzügen in Richtung Brenner. In diesen sind nur noch wenige Migranten zu sehen. Die meisten fahren statt dessen in Richtung Mailand. Wir folgen zweien von ihnen, setzen uns mit ihnen in ein Abteil und fangen ein Gespräch an. Die beiden kommen aus Bangladesch. Sie sind über die Balkanroute nach Italien gelangt. „Wir sind von Slowenien aus in der Nähe von Triest über die Grenze gegangen“, erzählt einer der eine. Des Nachts hätten sie sich durch ein Waldstück unbemerkt an den Grenzschützern vorbeigeschlichen. Jetzt sind auch sie auf dem Weg nach Frankreich.

 Allmählich wird klar: Der Großteil sowohl der Zuwanderer der zentralen Mittelmeerroute als auch die Migranten der Balkanroute schlagen den Weg Richtung Ventimiglia ein. Die beiden Männer aus Bangladesch wollen nach Großbritannien. In Mailand angekommen, steuern sie einen Platz unmittelbar neben dem Bahnhofsgebäude an. Es zeigt sich ein ähnliches Bild wie in Florenz oder Verona. Vereinzelte kleine Gruppen von Zuwanderern stehen zusammen und diskutieren. Andere tauschen Taschen und Mobiltelefone untereinander aus. Handelt es sich um eine Kontaktaufnahme mit Schleusern? Fest steht: Auch hier gibt es die, die schon länger in Mailand leben und den Bahnhof als Treffpunkt nutzen. 

Andere wollen weiter. Zumeist Richtung Genua. So auch jene, die gerade Taschen und Mobiltelefone erhalten haben. Wir folgen ihnen. Es geht an den Bahnsteig zum Zug nach Genua. Im Waggon sind nur kleine Gruppen und wenige Migranten zu sehen. Das ändert sich schlagartig, als wir an unserem Ziel ankommen. Wir treffen zahlreiche Zuwanderer mit Taschen und Tüten an. Ein hohes Aufgebot an Polizei und Militär ist vor Ort. Besonders rege ist der Betrieb auf dem Bahngleis des Zuges, der nach Ventimiglia abfährt. Die Spur wird heiß. Wir versuchen ein Ticket in die Küstenstadt zu kaufen. Zunächst vergeblich, denn der Schnellzug ist komplett ausgebucht. Auch die Regionalbahn ist überfüllt. Unter den Passagieren sind zahlreiche Schwarzafrikaner, Nordafrikaner sowie Syrer und Afghanen. Auch weitere Zuwanderer aus Bangladesch begegnen uns hier. 

Viele Migranten nennen Deutschland als Wunschziel

Knapp zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt. In Ventimiglia steht auf dem Gleis bereits eine große Zahl an Polizisten bereit, die stichprobenartig die Aufenthaltspapiere oder Pässe mutmaßlicher Migranten kontrollieren. Schon kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof wurde deutlich, was los ist: Zuwanderer campieren auf den Gleisen, abgesperrte Bahnhofsgebäude und vermüllte Plätze auf Schritt und Tritt. 

Direkt vor dem Bahnhof sind drei Mannschaftswagen der Polizei und mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten postiert. Ein Café gegenüber dem Bahnhofsdienst ist offenbar ein Anlaufpunkt für Ausländer. Die Stimmung ist aufgeladen und aggressiv, und mißtrauische Blicke treffen uns. Schnell wird klar: Hier an der italienisch-französischen Mittelmeerküste hat sich ein Hotspot für Migranten entwickelt. Und sie wollen längst nicht nur nach Frankreich. Besonders Deutschland und Großbritannien werden im Gespräch mit den Menschen immer wieder als Wunschziele genannt.

Lesen Sie alles über die explosive Stimmung unter den Migranten in Ventimiglia in Teil III dieser Reportageserie in der kommenden Ausgabe.

Foto: Bahnhof von Florenz: Die Migranten machen sich nicht mehr in großen Gruppen auf den Weg