© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Stürzt ein chinesischer Immobilienkonzern die Weltwirtschaft ins Chaos?
Von Lehman zu Evergrande
Thomas Kirchner

Zwei Billionen Dollar, rund zehn Prozent der Wirtschaftsleistung, umfaßte der chinesische Immobilienmarkt 2019. Im Jahr 2006 war die US-Immobilienblase mit 1,19 Billionen Dollar und 8,9 Prozent der Wirtschaftsleistung kleiner, doch ihr Platzen löste die Weltfinanzkrise aus. Der jetzt vor der Pleite stehende Immobilienkonzern Evergrande hat Gesamtschulden von umgerechnet 300 Milliarden Dollar, zumindest offiziell. 

Der tatsächliche Schuldenstand könnte höher liegen, denn der Konzern von Xu Jiayin hat „Vermögensverwaltungsprodukte“ ausgegeben, um mit Zinsen von bis zu elf Prozent Geld von Kleinanlegern einzusammeln. Wegen der hohen Summen ziehen manche Parallelen zur Lehman-Brothers-Pleite 2008. Doch China ist finanziell weitgehend abgeschottet. Nur eine 8,25prozentige Anleihe in Höhe von zwei Milliarden Dollar schuldet Evergrande ausländischen Investoren, die wohl leer ausgehen werden, obwohl chinesische Anleger gerade erst eine Zinszahlung erhalten haben. Ausländer haben vor chinesischen Gerichten kaum Chancen. Der Immobilienmarkt ist wegen strenger Kapitalkontrollen eine rein chinesische Angelegenheit. Übertragungsmechanismen ins weltweite Finanzsystem fehlen.

An zwei Stellen droht aber Gefahr: Der Immobilienmarkt in Hongkong stellt ein Billionenrisiko für japanische und britische Banken dar. Und eine von einem Immobiliencrash ausgelöste Wirtschaftskrise in China würde die Ausfuhren dorthin drosseln – und das Reich der Mitte ist mit 96 Milliarden Euro jährlich, nach den USA, Deutschlands zweitwichtigster Exportmarkt. Der Zusammenbruch des chinesischen Immobilienmarkts ist vom Staat verursacht. 400 Vorschriften zur Eindämmung der Spekulation wurden in diesem Jahr eingeführt. Immobilien stellen 62 Prozent des Vermögens chinesischer Haushalte dar, die gerade erst – durch die neue Tugendpolitik von Staats- und KP-Chef Xi Jinping – einen Billionenverlust in Technologieaktien erlitten haben. Schon 1998 standen im Rahmen der Asienkrise zahlreiche chinesische Finanzinstitute vor dem Ruin. Gelöst wurde das Problem planwirtschaftlich: Anstatt Verluste als solche anzuerkennen, blieben die Kredite in den Bilanzen in der Hoffnung, daß schnelles Wirtschaftswachstum das Problem bald übertrumpfen würde. Die Wette ging damals auf, auch weil der Immobilienmarkt stark anzog. Wird das chinesische Wachstum in Zukunft ähnlich stark ausfallen, wenn jetzt die Immobilienblase platzt?

Es besteht daher die Gefahr, daß Präsident Xi mit militärischen Auslandsabenteuern von Wirtschaftsproblemen ablenken wird. In jedem Fall wird der „Paramount Leader“ die Evergrande-Pleite politisch ausnutzen: einerseits, um kommunistische Verstaatlichungen voranzutreiben, andererseits, um die Repression zu erhöhen und milliardenschwere Immobilienunternehmer zu beseitigen, die ihm nicht loyal genug sind. 2008 spurte der damalige US-Finanzminister Hank Paulson und verstaatlichte die Hypothekenkonzerne Fannie Mae und Freddie Mac, als sein chinesischer Amtskollege in einem Anruf Sorgen um Chinas Anlagen in US-Hypotheken ausdrückte.

Man kann bezweifeln, daß ein westlicher Politiker ein ähnliches Telefonat wegen Evergrande führen wird. Der Kotau vor dem mächtigen Diktator in Peking, wie ihn nicht nur Angela Merkel regelmäßig exerzierte, verbietet Einspruch gegen die Ungleichbehandlung westlicher Anleger bei den chinesischen Anleihen.