© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Steigende Risiken
Umverteilung: Die Effekte der EZB-Geldpolitik auf Lohnquote und Vermögensverteilung
Dirk Meyer

Auch wenn die Europäische Zentralbank (EZB) zumeist lautlos und eher die Öffentlichkeit meidend im Hintergrund agiert, so gehen doch ihre Entscheidungen uns alle an. Dabei sind vereinfacht drei Wirkungskanäle ihrer unkonventionellen Geldpolitik mit einem Leitzins von null, Strafzinsen von 0,5 Prozent für die Überschußliquidität der Banken und massiven Anleiheankäufen zu unterscheiden. Augenscheinlich und für jeden spürbar sind die Zinseinbußen für Sparer auf Einlagen und Anleihen. Umgekehrt werden Kreditnehmer – private wie staatliche – bei Schuldenaufnahme begünstigt.

Hinzu treten Vermögenseffekte eines Niedrigzinses. Bei gleichbleibenden Erträgen einer Vermögensanlage (Mieteinnahmen, Anleiheverzinsung, Dividenden) steigt deren Wert, je tiefer der Marktzins fällt. Insofern zählen die Eigentümer von Immobilien, Aktionäre und Betriebsinhaber infolge einer höheren Bewertung ihrer Vermögen zu den Gewinnern. Was hier gut ist für die Eigentümer, wird zur Hürde für zukünftige Erwerber. Der kaum mehr mögliche Immobilienkauf für Familien spricht Bände. Ein dritter Effekt ist mit den konjunkturellen Wirkungen geringer Marktzinsen verbunden. Kredite für Investitionen und langlebige Gebrauchsgüter sind günstig, was die Nachfrage steigert, tendenziell Unternehmensgewinne erhöht, Arbeitsplätze sichert und Lohnsteigerungen möglich macht.

Standen bei Kritikern bislang die Zinseinbußen für Sparer im Blickpunkt, so richten zwei neuere Untersuchungen ihr Augenmerk auf die Verteilung der gesamtwirtschaftlichen Einkommen auf Löhne und Kapitaleinkommen sowie auf die Veränderung der Vermögensverteilung. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat auf der Basis der Bilanzdaten von über zwei Millionen Firmen im Euroraum (1999 bis 2017) die Entwicklung der Lohnquote auf eine Leitzinssenkung hin untersucht. Hiernach steigt die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitnehmereinkommen (Bruttolöhne, Sozialbeiträge des Arbeitgebers) am Volkseinkommen generell, besonders aber bei arbeitsintensiven Unternehmen.

Diese scheinbar frohe Botschaft für die abhängig Beschäftigten ist jedoch aus mehreren Gründen zu relativieren. Zum einen erreicht die Lohnquote nach drei Jahren wieder die Ausgangssituation. Die vermeintlich positive Wirkung ist also nur temporär. Darüber hinaus weist die Untersuchung einige Probleme auf. So kann es auch sein, daß der Anteil der Arbeitnehmer an allen Erwerbstätigen aufgrund des Rückgangs der Selbständigen kurzfristig ansteigt – wie etwa in Zeiten der Corona-Pandemie. Dann steigt die Lohnquote bereits aufgrund dieses Tatbestandes. Um diesen Struktureffekt auszuschließen, verwendet man eine sogenannte bereinigte Lohnquote, die bei konstant gehaltenem Anteil der Arbeitnehmer an den Erwerbstätigen eines bestimmten Jahres (Basisjahr) berechnet wird. Nicht jedoch der Autor der DIW-Studie.

Zudem ist die Lohnquote als Verteilungsmaßstab umstritten, denn zahlreiche Arbeitnehmer erhalten neben Löhnen auch Einkommen aus Kapitalanlagen (beispielsweise Zinsen). Gerade bei Gutverdienern können Kapitalanlagen zu weiteren Einkommen führen. Deshalb wäre es für Verteilungsfragen zutreffender, als Bezugsgröße die Arbeitnehmerhaushalte und nicht Arbeitsentgelte zu nehmen. Schließlich werden Änderungen des Leitzinses durch weitere geldpolitische Instrumente überlagert, so 2015/16 durch massive Anleihekäufe.

Ein separater Einfluß ist deshalb schwer belegbar. Interessant ist jedoch die Feststellung, daß die EZB-Geldpolitik aufgrund der Unterschiedlichkeit der Firmen in einzelnen Ländern der Eurozone zu sehr uneinheitlichen Effekten geführt habe. Das wiederum setzt ein Fragezeichen an die Einheitlichkeit der Währungsunion, die eine Voraussetzung für ihre Funktionsfähigkeit bildet. Stark abweichende nationale Preissteigerungsraten für Estland (5,0 Prozent), Deutschland (3,4 Prozent) und Griechenland (1,2 Prozent) spiegeln dies aktuell wider.

Renditetief verstärkt langfristig die Vermögensungleichheit

In einer zweiten Studie hat das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen die Auswirkungen der Niedrigzinspolitik auf die Vermögensverteilung für verschiedene Haushaltstypen hin analysiert. In dem untersuchten Zeitraum von 2015 bis 2019 fallen insbesondere die Anleihekaufprogramme. Generell konnte die Geldpolitik danach den Arbeitsmarkt stabilisieren, wenngleich in Deutschland vor allem das arbeitsmarktpolitische Instrument der Kurzarbeit Wirkung zeigte und eher die Südländer von der EZB-Politik profitierten. Niedrigzinsen behindern insbesondere junge Familien im Vermögensaufbau. Auch für Rentnerhaushalte wirft die private Altersvorsorge erheblich weniger Erträge ab. Demgegenüber konnten Haushalte gewinnen, die vor 2010 Immobilien erworben haben und in der Niedrigzinsphase Zugang zu überaus günstigen Kreditkonditionen erhielten.

Vermögensvorteile erzielten ebenfalls Haushalte, die vermietete Immobilien und Betriebsvermögen besitzen. Bei anhaltendem Renditetief verstärkt dies langfristig die Vermögensungleichheit. Allerdings wächst hier bei einem möglichen Zinsanstieg auch das Risiko der Schuldenbedienung und eines Vermögensverlustes. Da 2020 nur 17,5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland Aktien, oder aktienbasierte Fondsanteile besaßen, ist der geldpolitisch erzeugte Aktienboom an der deutschen Gesellschaft weitgehend vorbeigegangen. Demgegenüber konnten Norweger durch ihren 1,11 Billionen Euro (Juni 2021) schweren staatlichen Pensionsfonds (SPU) enorm gewinnen. Mit durchschnittlich sechs Prozent Rendite pro Jahr verdiente der SPU mehr als mit dem Dax möglich war.

Im Ergebnis beider Studien ist die derzeitige Geldpolitik der Europäischen Zentralbank nicht neutral, sondern führt zu Gewinnern und Verlierern. Deutlich steigende Risiken bergen für die Zukunft finanzielle Instabilitäten: Schuldner, deren Anschlußkredit bei höheren Zinsen Investitionen unrentabel macht oder gar zur Insolvenz führt; eine im Vermögensaufbau behinderte junge Generation; eine Alterssicherung, die mangels risikoarmer Festverzinsung auf riskantere Anlagen umsteuern muß.

Wohl als Antwort auf diesen gängigen Vorwurf und zur Entlastung stellte die US-Notenbank Fed rechtzeitig zur Jackson Hole-Konferenz Ende August ein Arbeitspapier vor, das einen umgekehrten Wirkungszusammenhang nahelegt: Eine durch ungleiche Sparquoten in der Bevölkerung hervorgerufene ungleiche Einkommensverteilung müsse durch eine lockere Geldpolitik geheilt werden.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

DIW-Wochenbericht 36/21: www.diw.de

IW-Studie „Der Einfluß der EZB-Geldpolitik auf die Vermögensverteilung in Deutschland“: www.familienunternehmen.de