© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Erzieher zur nationalen Einheit
Größe und Grenze des politischen Liberalismus: Zum 200. Geburtstag des Gelehrtenpolitikers Rudolf Haym
Oliver Busch

Seine bis heute nicht überholte Studie über „Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus“ widmete der Historiker Hans Rosenberg (1904–1988) „Friedrich Meinecke in dankbarer Verehrung“. Das war zugleich ein Abschiedsgruß an den Berliner Lehrer und Meister der Ideengeschichte. Denn das Vorwort datiert vom Juli 1933, und der Verfasser war auf dem Weg in die Emigration. Ihm, dem Privatdozenten, der am 23. Januar 1933 in Köln seine Antrittsvorlesung gehalten hatte, war nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ bedeutet worden, als „Halbjude“ solle er für das Sommersemester 1933 besser keine Veranstaltungen mehr ankündigen. 

Doch das „Les jeux sont faits, rien ne va plus“ galt nicht nur für Rosenbergs akademische Karriere im Reich Adolf Hitlers. Es galt auch für die von ihm, dem assimilierten Protestanten, personifizierte deutsch-jüdische Symbiose und erst recht für seinen Forschungsgegenstand, den parteipolitischen Liberalismus. Für den ging schon nichts mehr, noch bevor die Weimarer Republik 1930 in ihre Agonie-Phase überging. Die rechtsliberale Deutsche Volkspartei, die nach der Novemberrevolution von 1918 von ihm mitbegründete Partei des langjährigen Außenministers Gustav Stresemann, und die linksliberale, von Friedrich Naumann gleichzeitig aus der Taufe gehobene Deutsche Demokratische Partei befanden sich seit 1928 im Prozess rasanter Selbstauflösung. In Rosenbergs Antrittsvorlesung über „Epochen des parteipolitischen Liberalismus in Deutschland“ nahm sich ihr Niedergang daher wie das letzte Kapitel einer exemplarischen Verfallsgeschichte aus. Und diese „dezidiert antiliberale, eher sozialdemokratische Sicht“ (Ewald Grothe, 2014) entsprach durchaus der politischen Fiebertemperatur im Zeitalter der Extreme. Das Bild vom Liberalismus als einer „abgelebten Weltanschauung“ habe damals eben das Bewußtsein der Massen wie jenes der linken und rechten Intelligenz beherrscht, von Hermann Heller bis Carl Schmitt.

Nicht zuletzt um zu verstehen, warum der deutsche Liberalismus nach seinem epochemachenden Start im frühen 19. Jahrhundert, dem sukzessiven Verschwinden aus der politischen Arena des Kaiserreiches und dem  unerwarteten Aufschwung zu Beginn der ersten deutschen Demokratie schließlich im Abseits von Konventikeln landete, ist Rosenberg zum Haym-Forscher geworden. Habe doch der am 5. Oktober 1821 im niederschlesischen Grünberg geborene Lehrersohn wie kein anderer idealtypisch den „klassischen Liberalismus“ vertreten und damit diejenige „Form deutscher Lebensgestaltung“ repräsentiert, wie sie aus der „Synthese von Goethe-, Hegel- und Bismarckzeit“ entsprungen sei. 

Gerade sein langes Leben – der Hegel-Interpret und Hegel-Hasser Haym starb knapp 80jährig am 27. August 1901, an Hegels Geburtstag also –, ebenso wie sein opulentes Werk veranschaulichen daher Größe und Grenze des Liberalismus bis in feinste Verästelungen hinein. Die Größe der in der Vormärzepoche erstarkenden liberalen Bewegung, an der ein leidenschaftlicher Publizist und Politiker wie Haym wesentlichen Anteil hatte, bestand fraglos darin, dem deutschen Nationalstaat die Bahn gebrochen zu haben. Als Abgeordneter des rechtsliberalen Zentrums in der Frankfurter Nationalversammlung und als deren Chronist bis zu ihrem „Untergange“ focht Haym mit rhetorischem Schwung und polemischer Schärfe für die nationale Einheit, den bürgerlich-freiheitlichen Rechtsstaat unter dem Dach eines monarchisch-konstitutionellen Regierungssystems sowie für ein Klein-Deutschland unter preußischer Führung.

Monographien über Wilhelm von Humboldt, Hegel und Herder

Damit scheiterten die Liberalen jeder Richtung bekanntlich, was die Rückwendung des promovierten Philosophen von der Praxis zur Theorie erzwang. Im zweiten Anlauf glückte 1851 die Habilitation in Halle – der erste war 1846 gescheitert, weil der Kultusminister ihn verdächtigte, sich nicht hinreichend von den im junghegelianischen Banne der von Ruge und Feuerbach ausgeprägten demokratischen-atheistischen Neigungen „befreit“ zu haben. Verbunden mit dem Gelehrtendasein war die Absicht, Zeitprobleme nunmehr im Medium der Geistesgeschichte zu verhandeln.

Zwar setzte der „Erzieher zur Einheit“ den Plan einer nationalpädagogisch konzipierten „Geschichte des deutschen Geistes in realistischem Sinne“, gedacht als Beitrag zur Bewußtseinsbildung des ihm zu unpolitisch-biedermeierlich scheinenden Besitz- und Bildungsbürgertums, nicht um. Es blieb davon jedoch der grandiose Torso einer Reihe monumentaler, Literatur-, Philosophie- und Zeitgeschichte gelungen kombinierender Monographien übrig: über Wilhelm von Humboldt (1856), Hegel (1857), die „Romantische Schule“ (1870), Johann Gottfried Herder (1878/1885) und seinen älteren liberalen Mitstreiter Max Duncker (1891).  

Bei dem Lebensbild Humboldts liegt der Schwerpunkt auf der Profilierung der biographischen Einheit von Gelehrtem und Staatsmann. Die Persönlichkeit des liberalen Bildungsreformers, voll „Adel und Größe“, baut Haym zur Kontrastfigur auf, deren Ausstrahlung die Protagonisten der preußischen „Reaktion“ zu Lemuren schrumpfen läßt.  Nicht wenige Leser wollten aus dem 600seitigen Humboldt-Hymnus auf einen zwar idealistisch determinierten, aber realistisch handelnden Politiker schon einen „Ruf nach Bismarck“ heraushören, während die Monographie „Hegel und seine Zeit“ dann ein historiographisch nur unzureichend verpackter frontaler Angriff auf den Ungeist des preußischen Polizeistaats der 1850er Jahre darstellte, als dessen frühen Apologeten Haym Hegel, den „Philosophen der Restauration“, attackierte.

Es war kein Zufall, daß Haym 1858, als Prinz Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm I., die Regierungsgeschäfte anstelle des geisteskranken Bruders Friedrich Wilhelm IV. übernahm, seinen Hallenser Elfenbeinturm verließ und begann, mit Heinrich von Treitschke die „Preußischen Jahrbücher“ herauszugeben, die sich als ein wirkungskräftiges Organ der für den deutschen Einheitsstaat werbenden Altliberalen erweisen sollte. Haym schied 1864 aus der Redaktion aus, als er nach dem siegreichen Ende des Deutsch-Dänischen Krieges die „Reichseinigung von oben“ und damit ein „Halt im Begrenzten“ des Nationalstaats in Sicht kam. Mit Bismarcks „Blut und Eisen“-Politik, die sie bis 1871 endlich herbeiführte, ohne freilich liberale Wünsche nach einer Verfassung, nach Einheit in „Freiheit“, zu erfüllen, schloß er seinen Frieden, gab jedoch altliberale Reserven gegen den „Bonapartismus“ des Reichskanzlers nie auf.

Das eigentliche Versagen Rudolf Hayms und der von ihm zur Unterstützung Bismarcks geschaffenen nationalliberalen Partei liegt für Rosenberg und eine Heerschar zahlloser Liberalismuskritiker aber nicht in diesem Arrangement mit der Staatsmacht, sondern im Verzicht auf ein demokratisches Fundament für das wilhelminische Kaiserreich. Aus Angst vor dem „unheimlichen Andrängen der Proletariermassen“ habe der dem Parlamentarismus und dem allgemeinen Wahlrecht feindliche „Edelbürgerliberalismus“ à la Haym beharrlich die soziale Frage verdrängt und so seine politische Ohnmacht selbst verursacht, die in der Konsequenz den Totengräbern der Weimarer Republik das Feld überließ.