© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Am Empfangstresen einer Lungenarztpraxis werde ich unfreiwillig Zeuge eines Telefonats der Arzthelferin. Der Anrufer fragt offenbar nach einem Termin. „Wir haben erst wieder was im Januar frei“, antwortet die junge Frau. Pause. Sie hört zu, sagt dann immer noch freundlich: „Ja, das verstehe ich, aber ich kann da nichts machen. Wir vergeben Termine erst wieder ab Mitte Januar.“ Schließlich muß sie ihre Auskunft noch, inzwischen deutlich ungeduldiger, ein drittes Mal wiederholen, bis sie den Anrufer damit abgewimmelt hat. Und ich so bei mir denke: Meine Güte, volle dreieinhalb Monate Wartezeit, hoffentlich geht dem Patienten, der jedenfalls in dieser Praxis bis auf weiteres keiner sein darf, bis dahin nicht die Puste aus!


Gendersprache I: „Ich glaube, daß sich diese Genderei wieder beruhigt. Ich halte auch nichts davon, daß man nachträglich alte Bücher auf das heutige angepaßte Reden und Denken frisiert. Das ist Schwachsinn, und das wird hoffentlich wieder aufhören.“ (Literaturkritikerin Elke Heidenreich in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen vom 25. September)


Gendersprache II: „Ich hoffe, daß das eine Mode ist, die bald wieder vergeht. (…) Dieser Irrsinn zerstört die Sprache.“ (Musiker Heinz Rudolf Kunze in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 24. September)

Auch auf die Gefahr hin, für diesen Hinweis gesteinigt zu werden: In zwölf Wochen ist Weihnachten.

Lektüretip: „Für sich allein. Ein Atlas der Einsamkeiten“ (C.H. Beck) von Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland, und Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland. Die beiden Autoren erkunden darin in kurzweiligen Streifzügen durch Religion, Literatur und Kunst, Wissenschaft und Alltag die verschiedenen Formen des Alleinseins. In sieben Kapiteln und jeweils kleinen Lesehäppchen, die ein Hin-und-her-Springen erlauben, vermessen sie laut hier zutreffender Werbung „Zufluchtsorte, an denen man endlich ‘für sich’ ist, die Weiten der Loneliness, die man melancholisch durchwandert, das Reich der Solitude, in das sich Mönche, Wissenschaftler und Künstler zurückziehen, und die eisigen Regionen der Isolation, in denen man zu erfrieren droht“. In ihrer Einleitung schreiben die beiden Theologen: „‘Einsam’ will niemand sein, wer aber nie ‘allein’ gewesen ist, hat Wesentliches versäumt.“ Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen bestehe darin, „ob das Für-sich-Sein selbstgewählt ist, von einem selbst gestaltet und dann auch beendet werden kann“. 


Auch auf die Gefahr hin, für diesen Hinweis gesteinigt zu werden: In zwölf Wochen ist Weihnachten. Eine hübsche kleine Buchreihe zum Fest bietet der Reclam-Verlag, in der jetzt Anfang Oktober drei neue Bände erscheinen. Gab es unter dem Titel „Ein Weihnachtsabend mit“ schmale, dafür mit 6 Euro preisgünstige Bändchen bislang von Johann Wolfgang Goethe, Rainer Maria Rilke und Charles Dickens, kommen nun in gleicher Ausstattung Hans Christian Andersen, Theodor Fontane und Jochim Ringelnatz hinzu. Ehret mir die Klassiker!