© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Eine letzte kleine Reise
Tragikomödie: Die Romanverfilmung „Töchter“ ironisiert das Frausein in der Postmoderne
Dietmar Mehrens

All you need is love“, sangen die Beatles. Es ist eine der am meisten geglaubten Lügen der Postmoderne, zu deren Markenzeichen die Pop-Kultur gehört. Nicht Liebe ist das Grundbedürfnis des Menschen, sondern die soziale Harmonie. Und die ist am besten erreichbar in einer intakten Familie. Ohne die Geborgenheit einer solchen, ohne das Festgezurrtsein an den stabilen Seilen einer funktionierenden Gemeinschaft ist Liebe nur ein flüchtiger Schmetterling – hübsch anzuschauen, aber er flattert nur einen Sommer.

Davon und von den Sehnsüchten und Verletzungen, die eine dysfunktionale Familie bei Frauen im postmodernen Zeitalter auslösen kann, handelt der Film „Töchter“, eine Zusammenarbeit von Lucy Fricke, der Autorin der 2018 erschienenen gleichnamigen Buchvorlage, und Regisseurin Nana Neul.

Erfrischend undogmatische Gespräche zwischen den Freundinnen

„So kurz vorm Sterben auf einmal nett zu werden ist einfach eine Gemeinheit“, kommentiert Martha (Alexandra Maria Lara) die Bitte ihres todkranken Vaters Kurt (Josef Bierbichler), sie vor der großen Reise, der in die Ewigkeit, auf einer letzten kleinen zu begleiten. Die hat allerdings nur das Ziel, den Antritt der großen Reise zu beschleunigen. Im Klartext: Kurt möchte Sterbehilfe in Anspruch nehmen, und das geht in Dortmund, dem ungeliebten Wohnort, nicht. Er will in die Schweiz. Wegen eines traumatisierenden Unfalls traut sich Martha aber nicht mehr hinters Lenkrad und bittet daher ihre beste Freundin Betty (Birgit Minichmayr), den Fahrdienst – mit ihr als Beifahrerin – zu übernehmen.

Bald stellt sich jedoch heraus, daß Kurt seine Tochter angelogen hat, nicht zum ersten Mal übrigens. Es gibt für ihn noch einen anderen wichtigen Grund für die Reise nach Süden: Bei einem Abstecher an den Lago Maggiore hofft er, die alte große Liebe seines Lebens wiederzufinden, die ihm den Abschied vom Dasein versüßen soll. 

Unterwegs kommt es zu den für Filme dieses Genres erwartbaren Verwicklungen. Auf dem Höhepunkt derselben hängt ein eigentlich noch fahrtüchtiges Auto mitten in der italienischen Kleinstadt Stresa auf einmal als Wrack in der Luft – und mit ihm Betty und Martha. So bewahrheitet sich Kurts weise Erkenntnis: „Das Glück kann man teilen, das Leid wird immer nur verdoppelt.“

Die Wege der beiden Frauen trennen sich. Was Martha als Abschiedstour plante, wird für Betty zu einem Neuanfang. Und wieder steht eine Vaterfigur im Mittelpunkt. Betty begibt sich auf die Suche nach ihrem Stiefvater Ernesto, der nach offizieller Lesart längst verblichen ist. 

Vom Abschiednehmen und Wiederfinden handelt also dieses heiter-besinnliche Doppelporträt zweier Frauen in den mittleren Jahren und ihrer problematischen Väter. Trotz mitunter etwas holprig eingeleiteter Szenenwechsel ragt Nana Neuls Werk wie der thematische Vorläufer „Vincent will Meer“ (2010) aus dem erwartbaren Komödiendurchschnitt heraus, weil sie es schafft, aus der schematischen Konstellation einiges herauszuholen.

Das liegt vor allem an den Dialogen, die zuweilen Woody-Allen-Niveau erreichen. In geistreichen Einzeilern werden Grundfragen des Frauseins von heute verhandelt: „Das ganze Leben ist ein Prozeß des Niedergangs“, lamentiert Betty, die sich aus Anlaß des Osterfestes von Martha vorhalten lassen muß: „Mann, Betty, du glaubst ja wirklich an gar nichts!“ Von Glaubens- und Traditionsverlust, von ungewollter Kinderlosigkeit, von den zweifelhaften Errungenschaften der Emanzipation ist in den Gesprächen der Hauptfiguren die Rede, und das erfrischend undogmatisch.

Überstrahlt werden die jedoch von der fast schon unheimlichen Präsenz des bajuwarischen Edelgrantlers Josef Bierbichler und von der griechischen Frühlingssonne, die das Finale des Films auf der Kykladen-Insel Amorgos in ein magisches Licht taucht und die Traumkulisse märchenhaft glänzen läßt.

Kinostart ist am 7. Oktober 2021

Foto: Martha (Alexandra Maria Lara) mit ihrem sterbenskranken Vater Kurt (Josef Bierbichler) und ihrer Freundin Betty am Steuer (Birgit Minichmayr): Vom Abschiednehmen und Wiederfinden