© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Die Geheimnisse des Fürstensteins
Ein Schloß in Niederschlesien lohnt den Besuch
Paul Leonhard

Allmählich taucht aus dem grauen Nebel schattenhaft ein mächtiger Turm auf, der das Tal überragende trutzige Bergfried. Allmählich wird der Blick frei auf ein riesiges Märchenschloß: Fürstenstein bei Waldenburg in der heutigen Woiwodschaft Niederschlesien, das größte Schloß Schlesiens. Die burgartige Anlage mit ihren Gärten und Terrassen gehört bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu den touristischen Attraktionen der Region, woran sich bis heute nichts geändert hat.

Von Geheimnissen umgeben, weil hier in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs mächtige Stollen ins Erdreich getrieben wurden. Und reich an Geschichten und Anekdoten, die mit den illustren Gästen zusammenhängen, die hier vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Gast waren: Kaiser Wilhelm II., der britische König Eduard VII., die Königin von Rumänien oder Hugh Grosvenor, 2. Duke of Westminster, einer der reichsten Männer des britischen Empires, vor allem aber mit der Schloßherrin: Mary Theresa Olivia Fürstin von Pleß, Gräfin von Hochberg, Freifrau zu Fürstenstein, geborene Cornwallis-West – kurz Daisy genannt, ein Glamourgirl der europäischen Hocharistokratie.

Der hübschen 17jährigen Blondinne verfällt 1890 mit Hans Heinrich XV. von Pleß (1861–1938) einer der reichsten Männer des Deutschen Reichs, der dafür seine Verlobung mit Prinzessin Mary von Teck aufgibt, die Königin von England wird. Ein wenig europäische Geschichte des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts wird hier durchaus geschrieben. Auch weil die Fürstin von Pleß – zumindest der Legende nach – kurz vor Kriegsausbruch versucht, zwischen dem britischen König und dem deutschen Kaiser zu vermitteln.

Die junge Gräfin protzt mit ihrem Reichtum

Von der Hochzeit am 8. Dezember 1890 in London erzählen die heutigen polnischen Fremdenführer besonders gern. Und noch mehr vom Hochzeitsgeschenk des Bräutigams an seine Braut: eine 6,70 Meter lange Kette aus 4.500 raren Orientperlen im Wert von drei Millionen Reichsmark. Derartige Perlen werden seinerzeit mit dem vierfachen Preis bei vergleichbarem Karatgewicht eines Diamanten gehandelt. Ein Ingenieur in den Waldenburger Steinkohlebergwerken des Fürsten verdient 2.000 Reichsmark im Jahr.

Und die junge Gräfin protzt mit ihrem Reichtum. Als sie mit der mehrfach um den Hals geschlungenen Perlenkette nicht nur vor Fotografen posiert, sondern auch auf einem Kostümfest der Queen in London erscheint, kommt es zum Skandal.

Von adligen Etiketten und vom Charme derer von Pleß schwärmt die heutige Schloßherrin Magdalena Woch. Und damit meint sie nicht unbedingt die historischen Herrschaften, sondern ganz konkret den 1936 geborenen Bolko von Pleß, einen Enkel Hans Heinrich XV., der zwei- bis dreimal im Jahr den einstigen Sitz seiner Ahnen besucht, um durch das Schloß und den prachtvollen Park zu spazieren und der Germanistin und Leiterin der Museums- und Bildungsabteilung des Schlosses Familiengeschichten zu erzählen.

Daß heutige Besucher sich ein Bild vom Leben der Fürstenfamilie auf dem Schloß machen können, auch wenn nahezu die komplette Innenausstattung verlorengegangen ist, liegt nicht nur an den mit viel Liebe zum Detail bestückten ehemaligen Salons, Schlaf- und Arbeitszimmern, sondern auch an unzähligen historischen Fotografien. Der langjährige französische Küchenchef, Louis Hardouin (1877–1954), hat als leidenschaftlicher Fotograf zwischen 1909 und 1926 in mehr als 5.000 Aufnahmen den Alltag festgehalten. Dazu kommen Tagebuchnotizen der Fürstin, die sich als Engländerin von Schlesien überhaupt nicht begeistert zeigt.

Der Audioguide, der dem Besucher beim Eintritt in das Schloß überreicht wird, führt in die oberen Etagen des Schlosses, wo Ahnentafeln hängen und das Modell einer mittelalterlichen Schutzburg steht, errichtet Ende des 13. Jahrhunderts von Herzog Bolko I. von Schweidnitz, der sich fortan auch Herr von Fürstenstein nennt. Als der Schweidnitzer Zweig der Schlesischen Piasten ausstirbt, erbt der spätere böhmische und noch römisch-deutsche König Wenzel die Anlage.

Später erobern Hussiten die Burg, dann, während der böhmisch-ungarischen Kämpfe um die Thronfolge die Schweidnitzer Bürger. 1484 wird erstmals einer aus dem Geschlecht der von Hobergs, der späteren von Hochbergs, als Burghauptmann eingesetzt. 1509 erwerben sie es schließlich. Seitdem haben Generationen um- und angebaut. Die Burg wird erst im Stil der Renaissance, dann nach den Vorstellungen des Barocks überformt, verliert ihren wehrhaften Charakter und verwandelt sich in ein repräsentatives Schloß mit zwölf mit Springbrunnen geschmückten Terrassen auf einer Fläche von mehr als zwei Hektar.

KZ-Häftlinge müssen ein Stollensystem anlegen 

Geld ist reichlich vorhanden. Die Waldenburger Steinkohlebergwerke erwirtschaften reiche Gewinne. Wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Vorburg umgestaltet, ein zweitürmiges Torhaus errichtet und die Schloßbrücke mit Statuen aus der griechischen Mythologie geschmückt, so werden zwischen 1861 und 1914 der monumentale Westflügel mit dem Weißen und dem Georgenturm hinzugefügt und die Nordseite im Stil der Neorenaissance umgestaltet. Erst 1923 erhält der Hauptturm seine heutige Gestalt. Elektrisches Licht hält Einzug, Fahrstühle werden eingebaut. Für das Wohl der fünfköpfigen Fürstenfamilie sorgen in den letzten Jahren des Kaiserreiches rund 400 Bedienstete.

Auch für das Fürstenpaar gibt es kein glückliches Ende. Die Ehe wird 1922 in Berlin geschieden. Die Fürstin verläßt das Schloß, lebt mit den beiden jüngeren Söhnen in München, Berlin und anderen Städten. Im selben Jahr besetzt polnisches Militär Stadt und Fürstentum Pleß in Oberschlesien, wo sich der Familienstammsitz befindet. Um das Eigentum zu retten, nehmen der Fürst und seine Söhne die polnische Staatsangehörigkeit an, ziehen nach Pleß. Schloß Fürstenstein steht ab 1928 leer.

Alexander Hochberg dient nach Kriegsausbruch 1939 in der polnischen, Hans Heinrich XVII., seit 1932 in London lebend und britischer Staatsbürger, im Zivilschutz. Der jüngste Sohn, Bolko stirbt 1936 an einem angeborenen Herzfehler im nun polnischen Pless. Die Fürstin kehrt zwar aus finanziellen Gründen 1935 nach Waldenburg in die Villa Pohl zurück, bleibt aber als Staatenlose bis zu ihrem Tod 1943 isoliert. 

Das Schloß ist da bereits von den Nationalsozialisten enteignet, schließlich steht die Familie auf der Seite der Kriegsgegner, und kurz vor Kriegsende gibt es noch große Pläne für die Anlage. Sie wird in das Großprojekt „Riese“ integriert und in 50 Meter Tiefe mit dem Bau eines nie vollendeten Systems von Tunneln begonnen. Das Bekenntnis zu Polen rettet die Familie 1945 nicht vor den Enteignungen ihrer Fürstlich Plessischen Bergwerke AG in Kattowitz und der Fürstlichen Brauerei AG in Tichau, aus deren Gewinnen man bis dahin den fürstlichen Lebensunterhalt bestritten hat. Aufgrund ihrer deutschen Abstammung vertrieben, wird Deutschland notgedrungen wieder Heimat.

Glaubt man dem deutschsprachigen Audioguide, wird die Inneneinrichtung in den letzten Kriegsjahren von den Deutschen vernichtet. Deutschen Quellen zufolge plündern dagegen sowjetische Soldaten die Anlage. Fest steht zweierlei: Die 60.000 Bände und zahlreiche Handschriften umfassende Schloßbibliothek befindet sich heute zum Großteil im Archiv der Lomonossow-Universität in Moskau, und die 1943 mit dem Schloßumbau beauftragte NS-Organisation Todt macht tatsächlich Tabula rasa. Davon ausgenommen werden lediglich jene Teile, die der schlesische Denkmalpfleger Günther Grundmann als erhaltenswert eingestuft hat: der zwei Etagen hohe Maximiliansaal, der Rote und der Blaue Salon sowie die äußere Erscheinung des Bauwerkes insgesamt.

So gelingt es Nationalsozialisten und sowjetischen Kommunisten, die Innenarchitektur des Schlosses binnen weniger Monate zu zerstören. Unter dem Gebäudekomplex brechen KZ-Häftlinge derweil unter Anleitung deutscher Bergwerksspezialisten ein geheimnisvolles Stollensystem in den Berg, über dessen Sinn seit 1945 Generationen von Hobby- und Berufshistorikern sinnieren. Sollte es eine Produktionsstätte für neuartige Waffen werden, ein weiteres Führerhauptquartier oder lediglich ein Ausweichort für das Auswärtige Amt und andere diverse Organisationsstäbe? Für zusätzliche Spannung sorgt, daß nach Zeugenaussagen die Arbeiten von der Luftwaffe überwacht wurden.

Als vor einigen Jahren Hobbyhistoriker von einem ganzen Zug voller „Nazigold“ berichten, der in unterirdischen Stollen versteckt sei, bricht in Waldenburg das Goldfieber aus. Zehntausende aus ganz Europa reisen an, um mitzuerleben, wie man den letzten Geheimnissen der Nationalsozialisten auf die Spur kommt. „Natürlich gibt es keinen Goldzug unter dem Schloß“, sagt Magdalena Woch, die selbst zwei Jahre in den Archiven gesucht hat: „Dieses bis heute nicht verstummte Gerücht ist aber erstklassige Werbung für uns.“ Besonders Neugierige können daher selbst 77 betonierte Stufen in die Tiefe steigen und durch gut belüftete 500 Meter nasse Stollen laufen, aus Beton herausragenden fingerdicken Armierungsstahl und tropfendes Gestein bestaunen.

Im Dunkel der Geschichte verbirgt sich auch die legendäre Perlenkette der Fürstin. Was ist aus ihr geworden? Mußte Daisy sie Perle für Perle verkaufen? Oder ist sie zumindest in Rudimenten noch vorhanden? Als die neuen Besitzer Schlesiens den Tresor 1945 in Waldenburg öffnen, soll er voller Schmuck gewesen sein. Dann verlieren sich seine Spuren, bis 2021 das Nationalmuseum für eine Ausstellung mit einem Schmuckset aus dem Besitz der Fürstin von Pleß wirbt. Darunter befinden sich Stücke, die sich im Tresor befunden haben. Recherchen ergeben, daß sie von der polnischen Nationalbank in Warschau zur Verfügung gestellt wurden. In deren Keller würden sich unzählige Schließfächer befinden, um die sich niemand mehr kümmert. Vielleicht hat ja irgend jemand die Perlenkette nach Warschau gebracht und dort in einem Schließfach versteckt, vermutet Woch.

Perlen und Nazigold werden weiterhin die Phantasie der Menschen anregen und Schloß Fürstenstein viele Besucher bescheren. Diese sind auch dringend nötig, damit mit den Eintrittsgeldern die riesige Anlage erhalten und weiter erschlossen werden kann.

Fotos: Schloß Fürstenstein (Zamek Ksiaz) in Niederschlesien; Fürstenstein: Im Zweiten Weltkrieg wurde das Schloß als mögliches Hauptquartier für Hitler umgebaut; Besucher besichtigen das Tunnelsystem von Schloß Fürstenstein