© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Enormes Sendungsbewußtsein
Der britische Premier Tony Blair, der Irak-Krieg und die Hybris neoliberaler „Neuordnung“ islamischer Staaten
Oliver Busch

Für eine Mehrheit der Briten steht Tony Blair, der Premierminister, der sein Land 2003 an der Seite der USA in den Krieg gegen den Irak geführt hat, als Lügner („Bliar“) und Kriegsverbrecher da, der schon längst auf der Anklagebank des Internationalen Strafgerichtshofs sitzen müßte. Wo der Prozeß wohl ziemlich sicher mit einem harten Urteil enden würde, allein schon aufgrund des Materials, das nicht weniger als fünf britische Untersuchungskommissionen zum Thema „Irak-Krieg“ angehäuft haben. Zuletzt kam der 2016 vorgelegte Abschlußbericht der Iraq Inquiry, die 150.000 Dokumente zu sämtlichen Aspekten der britischen Kriegsbeteiligung auswertete und überdies 200 Zeugen befragte, zu einem „vernichtenden Resultat“ über diese „bewaffnete Intervention“: Sie sei voreilig, ungerechtfertigt, schlecht geplant gewesen und habe Großbritanniens Glaubwürdigkeit beschädigt.      

Strafrechtliche Konsequenzen hat dieses klare Fazit für Tony Blair bekanntlich nicht gezeitigt. Aber darin sieht Martin Günzel, Doktorand am Historischen Seminar der Universität Freiburg, auch nicht den eigentlichen Wert der immer noch unbefriedigenden Aufarbeitung des „umstrittensten Kapitels der britischen Geschichte“ im Zeitalter der zweiten Globalisierung. Vielmehr biete der zwölfbändige, inzwischen im Internet einsehbare Abschlußbericht für ihn ein atemberaubendes Lehrstück über die kriminelle Energie und gemeingefährliche Brutalität der sogenannten „Eliten des Westens“. 

Eine Lüge mußte schließlich den Kriegseinsatz legitimieren

In seiner gut recherchierten, spannungsgeladen präsentierten Studie über „Tony Blair, Großbritannien und die Entscheidung für den Irakkrieg 2001–2003“ (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3/2021) grenzt sich Günzel zunächst von den Regalmetern an Büchern und Aufsätzen ab, die vor allem angelsächsische Autoren dazu publizierten. Allzu sehr würden hier journalistische oder politologische Beiträge auf „mehr oder weniger dünner Quellengrundlage“ dominieren. Es habe daher lange an einer quellenbasierten, geschichtswissenschaftlich seriösen Studie gefehlt, und diese große Lücke möchte Günzel füllen. Dafür will er wissen, worüber auch der ihm zu „ergebnisoffene“, teils sogar den „Narrativen“ der damaligen Entscheidungsträgern auf den Leim gehende Abschlußbericht nicht erschöpfend Auskunft gibt: Aus welchen Gründen und mit welchen strategischen Zielen fiel die Entscheidung, sich am Irak-Abenteuer Washingtons zu beteiligen? Folgte Blair wirklich nur blind dem US-Kriegskurs und war er nichts als der „Pudel“ George W. Bushs? Oder entwickelte London eine eigene Politik gegenüber dem Irak Saddam Husseins?

Günzel unterscheidet zwei Phasen des britischen Nahost-Engagements – vor und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Vorher waren Blair und das Foreign Office im Gegensatz zu den kriegswilligen US-„Falken“ bestrebt, den Irak wieder in das 1991 etablierte internationale Kontroll- und Sanktionssystem, aus dem sich Saddam Hussein durch den Auszug der UN-Waffeninspektoren 1998 befreit hatte, zurückzuzwingen. Das wollte Blair zunächst auf friedlich-diplomatischem Wege erreichen. Obgleich ein Memorandum seines Außenministers schon im März 2001 ein viel weiter gestecktes Ziel skizzierte, die „Wiederherstellung eines freiheitlichen, rechtsstaatlichen Irak“ – den es historisch nie gab! Da dieses Projekt eine „fundamentale Veränderung der inner-irakischen Verhältnisse“ voraussetzte, also die Beseitigung des Saddam-Regimes, seien auch militärische Maßnahmen zu erwägen. Eindeutig, so Günzel, spreche aus diesem Papier die Bereitschaft zum Waffengang und der Wille zur Politik des „Regime Change“ Monate vor den islamischen Terrorangriffen auf die USA.

Danach ging es Blair nur noch darum, den von den USA seit langem kalkulierten Überfall auf den Irak völkerrechtlich mit den Lügen über Saddams Waffenprogramme zu legitimieren. Als dies im UN-Sicherheitsrat am Veto Chinas und Rußland scheiterte, warf der Labour-Premier Blair das von seiner Partei seit Jahrzehnten hochgehaltene Prinzip unbedingter Hoheit völkerrechtlicher Normen als Leitlinie „anti-interventionistischer Außenpolitik“ eilig über Bord und ließ seine Truppen an der Seite der USA nach Bagdad marschieren, ohne für seine „linksliberalen Politik des Regime Change“ im Irak, mit der die „demokratische Neuordnung“ des gesamten Nahen und Mittleren Ostens beginnen sollte, über halbwegs „durchdachte Neuordnungspläne“ zu verfügen. Angesichts solcher Hybris falle ein „frappierendes Licht auf die unreflektierte Affinität westlicher Politiker zum Konzept des Regimewechsels“, mit dem sie sich „bedenkenlos über völkerrechtliche Normen hinwegsetzen“. Blair trage aufgrund seiner „wegbereitenden Rolle“ erhebliche Mitverantwortung für diesen Krieg und dessen „desaströse Folgen“, die sich in nachhaltiger Destabilisierung der Region, dem Erstarken des politischen Islam und nicht zuletzt den Richtung Deutschlands Sozialsystem strömenden Massen Entwurzelter zeigen.

Mit guten Argumenten rehabilitiert Günzel den Einfluß des „persönlichen Faktors“ auf das Geschiebe der Weltpolitik. Ein einzelner Mann wie Blair, ein „typischer Überzeugungspolitiker mit enormem Sendungsbewußtsein, Macht- und Geltungsbedürfnis“, jedoch ausgestattet mit einem unterkomplexen Menschen- und Weltbild, das ihn glauben ließ, islamische Gesellschaften mit „liberal-demokratischen Werten modernisieren“ zu können, sei geraume Zeit imstande gewesen, der internationalen Politik seinen Stempel aufzudrücken. Ob so ein vermeintlicher Herkules nicht doch nur der Lakai mächtigerer, von Günzel vollständig ausgeblendeter oder in den Dokumenten vielleicht gar nicht auftauchender Akteure gewesen ist, müssen von ihm als dringend eingestufte weitere Forschungen zu diesem „eminent wichtigen Thema“ ergeben.