© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Lautlos rauschte der Tod heran
Die Einsätze der sowjetischen „Nachthexen“ von 1942 bis 1945
Marcel Waschek

Nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gelang es im Chaos der ersten Angriffstage, den Großteil der davor übermächtigen Luftwaffe russischen Flugzeuge am Boden zu zerstören. Die sowjetischen Piloten, denen es gelungen war, ihre Flugzeuge mit Tarnung oder Verlegung zu retten, wurden in den darauffolgenden Wochen häufig in der Luft abgeschossen, oder ihre Flieger gingen durch mangelhafte Ausbildung verloren. 

Am 8. Oktober 1941 hatte Josef Stalin deshalb auf Initiative Marina Raskovas die 122. Fliegergruppe mit 115 jungen Pilotinnen in Archangelsk aufstellen lassen. Die Freiwilligeneinheit bestand ausschließlich aus Frauen, welche sich meist aus patriotischen Beweggründen für den Einsatz an der Front entschieden hatten. Anfänglich wurden die Pilotinnen des sowjetischen 588. Nachtbombenfliegerregiments, später 46. Garde-Nachtbombenfliegerregiment, von ihren männlichen Fliegerkollegen kritisch, nicht selten abwertend betrachtet. Doch bald erwarb sich die Einheit den Respekt von Freund und Feind. 

Für deren waghalsige Einsätze war die langsame Polikarpow Po-2, ein zweisitziger Doppeldecker, der ursprünglich nur als Schulflugzeug konstruiert worden war und vor dem Krieg lediglich als Übungs- und Agrarflugzeug Verwendung fand, überraschenderweise perfekt geeignet. Zudem benötigten die Flugzeuge nur eine kurze Startbahn, die einen unproblematischen Einsatz überall in Frontnähe ermöglichte. Die weiche Stoffbespannung über dem Holzgestell erlaubte es, bei abgestelltem Motor nahezu lautlos weite Strecken meist in Baumwipfelhöhe durch die Luft zu gleiten. Die sich mit fortschreitendem Krieg von 180 Kilo auf 300 Kilo steigernde Bombenlast machte den deutschen Streitkräften schwer zu schaffen. Die im Landserjargon als „Nachthexen“ bezeichneten Pilotinnen mit ihren aus dem Nichts kommenden taktischen Bombenangriffen führten bei den Wehrmachtssoldaten über die eigentlichen Verluste hinaus noch zu höheren psychologischen Auswirkungen. 

Doch auch vor den gefeierten Heldinnen machte die Paranoia in Armee und Partei nicht halt. Als Sofia Oserkova zum Beispiel als Chefmechanikerin bei einem Rückzug im August 1942 nicht flugfähige Maschinen sprengte und sich zu den russischen Linien durchschlug, glaubte man ihr nicht. Stattdessen hielt sie die Militärpolizei für eine deutsche Agentin, anders, so der Vorwurf, wäre ihr Rückzug nicht möglich gewesen. Auf Bitten ihrer Kameradinnen wurden die Anschuldigungen vom Oberkommando fallengelassen. Bei den 23.672 Einsätzen – vorwiegend im Donbass, dem Kaukasus, auf der Krim – wurden 26 deutsche Versorgungslager, 9 Züge, 17 Brücken und über 80 Feuerstellungen zerstört und unzählige Versorgungseinsätze geflogen. 23 Nachthexen   erhielten den Titel „Held der Sowjetunion“, ihre Taten wurden später überall propagandistisch verklärt. Zum 100. Geburtstag von Marina Raskovas gab die russische Post 2012 sogar eine Briefmarke heraus. Nur 14 der Nachthexen fielen im Einsatz, da es den deutschen Fliegern schwerfiel, die in geringer Höhe kämpfenden und dazu überaus wendigen Po-2 Flugzeuge zu stellen.