© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Pandemie des Unwissens
Über weite Strecken der Sars-CoV-2-Seuche tappt die deutsche Politik im dunkeln
Mathias Pellack

Long Covid bedrohe unsere Kinder, warnt Karl Lauterbach (SPD). Eine Pandemie der Ungeimpften werde kommen, sagt CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn. Die Impfquote sei zu niedrig, um gelassen in den Herbst zu gehen, findet der Charité-Virologe Christian Drosten. Berechnungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeigten, daß wir eine Impfquote von 80 bis 85 Prozent brauchten, um die Krankenhäuser nicht zu überlasten, wenn wir keine Corona-Maßnahmen verhängen wollen.

Leider sind diese Aussagen schlecht belegt. Das sogenannte Long-Covid-Syndrom soll Menschen betreffen, die eine Sars-CoV-2-Infektion durchgemacht haben und bei denen kein Virus mehr nachweisbar ist, die aber trotzdem noch verschiedene Symptome aufweisen: Müdigkeit, Erschöpfung und eingeschränkte Belastbarkeit, Kopfschmerzen, Atembeschwerden, Geruchs- und Geschmacksstörungen, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, depressive Verstimmungen sowie Schlaf- und Angststörungen.

Der Chef der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), Tobias Tenenbaum, nennt Long Covid daher im Redaktionsnetzwerk Deutschland eine „Ausschlußdiagnose“. Und der Chefarzt am Sana Klinikum Berlin-Lichtenberg ergänzt: „Sicherlich ist nicht nur die Coronavirus-Erkrankung dafür verantwortlich, sondern auch der Lockdown hat seine Spuren hinterlassen.“ Zwei Studien hatten gezeigt, daß Long Covid bei Infizierten und Uninfizierten vorkommt. Eine Einordnung von Long Covid im ICD – der Internationalen Klassifikation der Krankheiten – gibt es noch nicht.

Ein antidemokratischer Trend ist zu beobachten

Ähnlich spekulativ ist die nicht nur von Angela Merkel gern bemühte „Pandemie der Ungeimpften“. Heißt das, nur noch Ungeimpfte tragen das Virus weiter? Spätestens die Delta-Variante zeigt eine hohe Übertragbarkeit auch unter Geimpften. Anders wäre kaum zu erklären, wieso Island im August dieses Jahres eine Inzidenz von fast 240 aufwies, obwohl die Bevölkerung schon zu 79,85 Prozent geimpft war. Nicht nur der Epidemiologe und Virologe Alexander Kekulé (Universität Halle-Wittenberg) predigt seit Monaten in seinem MDR-Podcast, daß es bei Sars-CoV-2 keine Herdenimmunität geben wird – aber diese Hoffnung wird weiter verbreitet. Doch für die Herdenimmunität ist nicht nur der individuelle Krankheitsschutz durch die natürliche oder künstliche Immunisierung ausschlaggebend, sondern eben auch der Schutz vor der Übertragung. Nur etwa fünf Prozent der Geimpften laufen noch Gefahr, schwer an Covid-19 zu erkranken, das für die Pandemie wichtige Kriterium der hohen Übertragbarkeit ist so nur wenig verringert.

Zunehmende Sorge bereitet auch der antidemokratische Trend der Corona-Politik. Anstatt klar und offen zu kommunizieren, wird mit angstmachendem Vokabular eine generelle Unsicherheit erzeugt. Dazu kommt, daß die Bundesregierung nach eineinhalb Jahren „epidemische Lage nationaler Tragweite“ immer noch keinen klaren Fahrplan aufgestellt hat, welche Kriterien erfüllt werden müssen, um den anhaltenden Grundrechteentzug zu beenden. Dementsprechend nimmt das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden stark ab.

Allein im Oktober 2020 – Lockdown sollte es laut Regierungsaussagen aus dem Frühjahr nicht wieder geben, aber die Inzidenzen stiegen – sackte das Vertrauen von knapp 80 auf 70 Prozent ab, ermittelten Wissenschaftler der dänischen Uni Aarhus. „Diese Wurstigkeit ist nicht länger hinnehmbar,“ findet der AfD-Bundestagsabgeordnete Thomas Seitz. Die Öffentlichkeit habe schon viele Schludereien und Irreführungen durch die Bundesregierung erlebt: Intensivbettenverknappung, die planlose Beschaffungspolitik durch Minister Spahn, diverse „Maskendeals“ oder das „Panik-Papier“ aus dem Bundesinnenministerium, das bewußt eine „drastische Krisenkommunikation“ empfahl, so Seitz. Der so aufrecht erhaltene Ausnahmezustand habe für die Regierung aber einen Vorteil: So können „viel leichter Demonstrationen untersagt oder legitime Kritik an der Regierung stigmatisiert werden“, so der frühere Staatsanwalt.

Gesetzlich verankert als Kriterium für freiheitseinschränkende Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit waren zwar die Ansteckungen pro 100.000 Menschen (Inzidenz). Dahinter stand aber das Argument der Vermeidung einer Überlastung der Krankenhäuser, speziell der Intensivbetten und des Pflegepersonals. Vor diesem Hintergrund beklagte der wissenschaftliche Leiter des Divi-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, kürzlich bei einem Kongreß des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung, die verlorene Bettenkapazität: Die Zahl betreibbarer Intensivbetten, mit denen Patienten, die schwer an Covid-19 erkrankt sind, invasiv beatmet werden können, sei in den vergangenen neun Monaten von 12.000 auf etwa 9.000 gesunken. Ursächlich sei ein „ausgeprägter Personalmangel, der insgesamt auch immer schlimmer wird“. Der Kölner Oberarzt schaut deshalb kritisch auf Herbst und Winter und empfieht die Beibehaltung der Maskenpflicht.

Mit der Aufbereitung der Zahlen standen die Kliniken und das Divi schon länger in der Kritik. So wiesen der Informatiker Tom Lausen und der Gesundheitsökonom Matthias Schrappe (JF 22/21) eindringlich auf plötzlich verschwundene Intensivbetten und andere Unstimmigkeiten hin. Als Erklärung dient einerseits der Abbau an Personal, aber auch die finanzielle Unterstützung aus Spahns Gesundheitsministerium. So können nur Krankenhäuser eines Landkreises, der eine Intensivbettenauslastung von über 75 Prozent aufweist, finanzielle Zuschüsse beantragen. Auch hier findet keine staatliche Überprüfung statt.

Ein weiteres Beispiel für die schlechte Daten­ermittlung während der Corona-Krise ist die systematische Erhebung der Ansteckungs- und Immunitätszahlen. Zu Beginn der Pandemie bestand große Unsicherheit darüber, wie viele Personen durch asymptomatisch Infizierte angesteckt werden. Diese Frage kann über breit angelegte PCR- und Antikörper-Screenings beantwortet werden. Auch hier war die Bundesregierung nachlässig. Gabriel Felbermayr, Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), trug bereits im Februar 2020 die Idee einer solchen breiten Erhebung von Infektionen und Immunität an die Bundesregierung heran.

„Keinen rechtsverbindlichen Förderantrag gestellt“

Eine Million Euro hätte das kosten sollen. Die Untersuchung war zusammen mit dem Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie entwickelt worden und sollte an die Nako-Gesundheitsstudie anknüpfen. „In dieser Langzeitstudie lassen sich 200.000 Bürgerinnen und Bürger auf freiwilliger Basis über Jahre hinweg medizinisch untersuchen und zu ihrer Gesundheit befragen. Wir wollten sie in unser Screening einbinden. Das Robert-Koch-Institut hat unser Konzept gutgeheißen,“ sagte Felbermayr im Spiegel.

Aber leider konnten die gefragten Bundesministerien für Gesundheit und für Forschung das nötige Geld nicht bereitstellen. „Oder sie wollten es nicht,“ so Felbermayr. Seitz hat bei der Bundesregierung nachgehakt: Dem Forschungsministerium habe „kein rechtsverbindlicher Förderantrag“ vorgelegen, und das Ministerium von Spahn will keinen Antrag gesehen haben.

Ähnliche Muster des Hirn-Hypometabolismus bei  Patienten mit Long Covid:  link.springer.com

Foto: CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn: Weiß er, ob die Maßnahmen passen oder nicht?