© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Der Flaneur
Im Ghetto der Gentrifizierer
Paul Meilitz

Ich habe den Namen des Mädchens nicht verstanden – irgend etwas Weltoffenes. Dabei gehörten Mutter und Kind zur aussterbenden Gattung jener, „die schon länger hier leben“. Folgsam lenkte das Mädchen ihr Fahrrad in einen schicken Innenhof. Hinter ihr fiel scheppernd das Tor ins Schloß. Es ist doch ein schönes Gefühl, wenn Kinder gut behütet werden. Drinnen bot sich alles, um den Bewohnern das Leben so angenehm und störungsfrei wie möglich zu machen. Ein großer Spielplatz, sauberer Rasen. Selbst Fahrräder konnten vor den Wohnungseingängen abgestellt werden. Wer überwindet schon mit einem geklauten Bike einen hohen Gitterzaun.

Der „Verkehr“ auf dem ehemaligen Bahndamm wird mit einem Zaun ferngehalten.

Auch die Mutter parkte beide Fahrräder ungesichert in ihrem Biotop. Sie war nicht so gekleidet, daß es ein Hingucker wäre. Diplomatisch formuliert würde es „Schlabberlook“ heißen. Weniger zurückhaltend ausgedrückt, ähnelte ihr Dreß einem Leinensack, der genauso zottelig an ihr herunterfiel wie die Fransen auf dem ungeschminkten Kopf. Bloß nicht weiblich wirken. Es könnte Sexisten auf den Plan rufen. Dabei hätte sich die Dame ein gepflegtes Aussehen leisten können, denn die Bewohner der Wohnanlage sind typische „Gentrifizierer“ und die Haupttäter beim Aufspritzen des Mietspiegels. 

Und dennoch weist ihre Enklave ein Defizit auf. Rückseitig lehnt sich der Gutmenschenkomplex an einen ehemaligen Bahndamm, auf dem längst kein Zug mehr fährt, sondern anderer Verkehr stattfindet. Täglich sind stark pigmentierte junge Männer unterwegs, die Ware feilbieten, deren Verkauf eigentlich unter Strafe steht. Eigentlich, denn die Polizei hat das Katz-und-Maus-Spiel längst aufgegeben. Zumal die zuständige Verwaltung in grüner Hand ist. 

Immerhin wird die Szene vom Ghetto der Gutbetuchten ebenfalls durch einen Drahtzaun ferngehalten. So schauen die einen hinunter, die anderen hinauf. Ob und wie die Mutti diesen Blickwechsel ihrer Tochter erklärt, bleibt offen. Im schlimmsten Fall als kulturelle Bereicherung. 

Dafür spricht vor allem, daß ich ein paar Tage später die Schlabberlook-Lady wiedertraf. Diesmal beim Betreten des Wahlkreisbüros der Grünen. Thema: „Verkehrsberuhigung im Kiez“. Vom „Verkehr“ auf dem Bahndamm war da bestimmt nicht die Rede.