© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/21 / 01. Oktober 2021

Ob du willst oder nicht
Der Fall Thiel begann als eine von Millionen Vollstreckungen des Rundfunkbeitrags: Doch es zeigte sich, der WDR wollte ein Exempel statuieren. Akten belegen, der Kölner Sender tat alles, um Thiel hinter Gittern zu sehen. Und er verhinderte mehrfach eine Freilassung
Markus Mähler

Georg Thiel zahlt keinen Rundfunkbeitrag, weil er ARD und ZDF nicht nutzt. Vom 25. Februar bis zum 24. August 2021 sitzt er seine Zeit unter Schwerverbrechern ab, 181 Tage: Deutschlands bekanntester Häftling, Deutschlands irrsinnigste Haft – ausgerechnet für Deutschlands umstrittenste Zwangsabgabe.

Schieben wir einmal die 465 Euro beiseite. Die hätte der Westdeutsche Rundfunk laut Kostenaufstellung gewonnen, aber Thiel knickt vor dem Haftbefehl nicht ein. Er zahlt nicht. Er läßt sich von der größten und teuersten Sendeanstalt der ARD nicht brechen. Sechs lange Monate: Was gibt es jetzt über den Sinn des Rundfunkbeitrags noch zu sagen? Georg Thiel: Ein technischer Zeichner aus Borken, dem es nicht ums Geldverdienen geht, der sich mit dem Wort „Minimalist“ beschreibt und im April 54 Jahre alt wurde – ganz allein in einer Zelle. 

Sprechen wir über die Haft und den Rundfunk: Ist die ARD von allen guten Geistern verlassen? Möchte sie die Zeit jetzt gewaltsam zurückdrehen? Reitet sie auf dem Rücken der Behörden eine Vollstreckungswelle nach der anderen? Will sie Millionen wieder zum Zahlen erziehen – durch das ultimative Gewaltmittel in diesem Land: Ist der Haftbefehl nun das Mittel der Wahl?

Erleben wir einen Rundfunk, der Menschen drangsaliert, ihr Leben ruiniert und das hinterher als Kollateralschaden abtut? Möchten Senderbosse wie Tom Buhrow diese Verantwortung wirklich schultern, und wie erklären sie uns das? Gar nicht. Der WDR verteidigt diese Haft monatelang mit Zähnen und Klauen, und dabei stört vor allem eines: die Wahrheit.

Bereits am 2. März, wenige Tage nach der Verhaftung von Georg Thiel, schreibt die Kommunikationsabteilung des WDR per Mail: Eine Vermögensauskunft mit Haft, also bis zu sechs Monate Gefängnis, das „ist in Deutschland so üblich und greift z.B. auch bei nicht bezahlten Knöllchen oder Müllgebühren“. Der Sender erfährt von den „schärferen Maßnahmen“ leider „oft erst im Nachgang“.

Er hatte die Vollstreckung zwar ausgelöst, ist aber „nicht mehr Herr des Verfahrens“. „Beamte“ hätten die Haft „angeordnet“. Ach, hätte der WDR dabei doch bloß mitreden dürfen, denn er steht zu seinem Wort: „Aus Sicht des WDR ist eine sog. Erzwingungshaft im Zusammenhang mit dem Rundfunkbeitrag in der Regel nicht verhältnismäßig.“

„Nach Rücksprache mit dem WDR soll der Haftbefehl ...“

Fassen wir zusammen: In Köln wollen sie von Thiels Verhaftung nichts gewußt haben. Schließlich läßt die ARD doch keine Menschen verhaften. Schuld sind immer die anderen. Zu viele Politiker und Journalisten plappern bei jedem neuen Haftfall des Rundfunks die immer gleichen Textbausteine nach. Es bleibt ein wortreiches Nichts, denn die ganze Wahrheit benötigt bloß einen Satz: Georg Thiel wollte nicht an den WDR zahlen, der WDR hat auf die Verhaftung gedrängt, es war ein ungleiches Machtspiel.

Auf der einen Seite ist da ein Mensch – auf der anderen Seite diese Rundfunkmaschine, die offenbar eines antreibt: ihre Angst, daß unsere Milliarden morgen nicht mehr fließen. Thiel ist nicht der erste, der so gebrochen werden soll, und er wird nicht der letzte sein. Haft & Rundfunk – das hat Methode. Inzwischen liegt ein Aktenberg zur Causa Thiel am Verwaltungsgericht Münster. Jedes Blatt für sich ist bloß ein Mosaikstein; zusammengesetzt zeigen sie ein schonungsloses Sittengemälde des WDR in Köln. Unter dem Etikett „Beitragsservice“ treibt er federführend für ARD und ZDF unsere Milliarden ein. Der Sender mit der Maus, das ist der Sender mit den Mäusen.

Der Weg ins Gefängnis beginnt für Georg Thiel am 23. September 2020 – ein halbes Jahr bevor er verhaftet wird: Im Borkener Rathaus klingelt das Telefon. Der WDR möchte mit der Stadtkasse sprechen. Eine Mitarbeiterin nimmt das Gespräch entgegen, und sie dokumentiert in einem Aktenvermerk: Nach „Rücksprache mit Frau […] vom WDR soll der Haftbefehl vollstreckt werden“. Nur wenige Stunden später, am 24. September, schreibt die Stadtkasse an das Amtsgericht Borken: „Sie werden beauftragt, die Verhaftung des Schuldners durchzuführen.“

Am 4. November schreitet der WDR wieder am Schreibtisch zur Tat: Beim Amtsgericht Borken klingelt das Telefon, eine Gerichtsvollzieherin nimmt den Hörer in die Hand. Sie wird Georg Thiel später verhaften lassen, und sie notiert jetzt in einem Aktenvermerk: „Ich habe heute einen Anruf […] des Westdeutschen Rundfunks in Köln erhalten.“ Der WDR möchte wissen, „ob bereits eine Verhaftung stattgefunden habe“. Noch nicht.

Die Gerichtsvollzieherin notiert sich die Anweisungen aus der Anstalt: Der Sender von Intendant Tom Buhrow halte „am Verhaftungsauftrag und dem entsprechenden Haftbefehl fest“. Allerdings „soll die kommende Woche abgewartet werden, […] um die aktuelle Situation und weitere Entwicklung (evtl. Presseanfragen etc.) abzuwarten“.

„Man erklärte mir weiterhin“, schreibt die Gerichtsvollzieherin, daß der WDR einen „Verdacht“ habe: Georg Thiel sei ein „Reichsbürger“. Das ist ein verhängnisvoller Verdacht – und ohne Beweise sogar eine Verleumdung, also eine Straftat. Was macht Georg Thiel zum Staatsfeind? Nun wird es in der Aktennotiz haarsträubend: Beim WDR seien „diverse Schreiben des Schuldners eingegangen“, er habe darin „seinen Unmut über die GEZ-Gebühren“ geäußert.

Dieses Muster taucht in den Haftfällen des WDR verdächtig oft auf: Als Markus Lynen im Februar 2018 in die JVA Ossendorf eingeliefert wird, entdeckt er ein Formular auf dem Tresen: „Ich habe dann genauer hingesehen, da stand ein Wort, mit einem Kugelschreiber geschrieben. Ich war fassungslos und sagte dem Polizisten: ‘Hör mal, warum steht denn hinter meinem Namen Reichsbürger? Ich bin Altenpfleger. Ich habe damit gar nichts zu tun.’“

Keine Frage: Lynen oder Thiel wollen für den Rundfunk unbequem sein, und sie wollen mit den Medien sprechen. Wenn die ARD die Menschen aber nicht mehr vom Rundfunkbeitrag überzeugen kann, steckt sie uns dann auch alle ins Gefängnis zu Strafttätern? Im Fall Thiel ist ein geäußerter „Verdacht“ extrem effizient: Schon die bloße Reizvokabel „Reichsbürger“ versetzt schlafende Behörden in Alarmbereitschaft. Allerdings soll die Gerichtsvollzieherin noch eine Woche abwarten. Der WDR möchte sich offenbar vergewissern, daß die Luft rein ist.

„Hier ist mein Haftbefehl, jetzt verhaften Sie mich!“

Am 11. November ist die Schonfrist für Georg Thiel vorbei: Kein Journalist hat beim Westdeutschen Rundfunk angerufen. Zum dritten Mal greift der WDR in Köln zum Hörer. Wieder klingelt das Telefon beim Amtsgericht Borken, die Gerichtsvollzieherin erhält finale Instruktionen: Die „Abteilung Beitragsservice“ habe „Rücksprache mit der Rechtsabteilung gehalten“ und „bitte nun um Fortsetzung des Verfahrens“.

Die Gerichtsvollzieherin schreibt an die JVA Münster. Sie möchte wissen, ob „im Hinblick auf die aktuelle Corona-Pandemie“ die „Einlieferung“ von Georg Thiel machbar ist. Ja, Nichtzahler des Rundfunks bekommen in Münster trotz Corona einen Haftplatz; zunächst in der Vier-Mann-Zelle.

Schwieriger gestaltet sich Punkt zwei auf dem Arbeitsplan: „polizeiliche Unterstützung bei der Verhaftung“. Die Gerichtsvollzieherin schreibt an die Borkener Polizei und bittet um eine Eskorte für ihren Besuch bei Georg Thiel. Der Antrag ist gespickt mit explosivem Vokabular: „Reichsbürger“, „gewalttätiger Widerstand“, „gefährdungsrelevante Aspekte“.

Darf die Blüte der Borkener Beamtenschaft blutig dahingemetzelt werden – und das durch einen Rundfunkterroristen? Zum Glück hat der WDR rechtzeitig gewarnt! Die Polizei sendet Späher aus. Es beginnt ein Schildbürgerstreich, der sich aus einem „Verdacht“ des WDR nährt.

Beide Seiten wissen nichts voneinander, und sie sprechen auch nicht miteinander. Die Polizei weiß nicht, wie harmlos Thiel ist. Thiel weiß nicht, wie gefährlich er sein soll. Zur Erinnerung: Auslöser für all das ist ein Streit wegen dieser sinnentleerten Zwangsabgabe für ein paar Fernseh- und Radiosender. Ein Mann ist im Fadenkreuz, und Thiel erkennt es erst, als er am 5. Februar zufällig aus dem Fenster blickt: Ein Uniformierter schleicht über den Hof, kundschaftet die Lage aus und verschwindet lautlos.

„Ich habe geglaubt, es ist soweit“, sagt Georg Thiel, doch es passiert nichts: „Du weißt nicht, wann holen die dich ab.“ Er will es hinter sich bringen und fährt am 9. Februar zur Polizeiwache Borken: „Hier ist mein Haftbefehl, jetzt verhaften Sie mich!“ Er wird nicht verhaftet, so funktioniert es nicht. Thiel soll zum Amtsgericht Borken. Dort spricht er mit dem Wachtmeister: Die Gerichtsvollzieherin müßte zuerst einen Termin bestimmen und dann die Anweisung zum Verhaften geben. Ein Teufelskreis. Die Justizbeamtin fürchtet Thiels „gewalttätigen Widerstand“.

Spät, sehr spät kommt die deeskalierende Idee: Ein Streifenpolizist vom Bezirksdienst klingelt todesmutig an der Haustür und stellt sich bei Georg Thiel vor. Auch dieses Gespräch landet beim Amtsgericht Borken in den Akten. Der beherzte Beamte rapportiert am 10. Februar der Gerichtsvollzieherin am Telefon. Georg Thiel sei ihm im Gespräch „sehr klar erschienen“, es war eine „normale Unterhaltung“ möglich und Thiel habe sogar erklärt, „daß er bei einer künftigen Verhaftung keinen Widerstand leisten werde“. 

Das wollte er nie – und trotzdem statuieren sie an ihm ein verstörendes Exempel: schon wieder. Was Georg Thiel widerfährt, das passiert Nichtzahlern der ARD mittlerweile seit fünf Jahren, aber nur noch ganz selten ruft es einen Aufschrei hervor. Das war einmal anders.

Gefängnis und Kündigung wegen 181 Euro

4. Februar 2016, 10.30 Uhr: Sieglinde Baumert bestückt Platinen in der Halle eines Metallbetriebs. Im Gebäude nebenan warten zwei Polizisten stumm hinter einer Tür. Ein Gerichtsvollzieher erörtert im Büro der Geschäftsführung, daß er von Sieglinde Baumert gleich eine Vermögensauskunft verlangen wird, daß sie das immer noch durch die Zahlung abwenden kann.

Und dann wird Sieglinde Baumert gerufen, sie bleibt bei ihrem Nein, sie wird verhaftet und in das Frauengefängnis in Chemnitz gefahren. Die Kündigung ist unterwegs. Der Brief wartet lange vergeblich im heimischen Briefkasten. Sieglinde Baumert ist aus ihrem alten Leben verschwunden. Ihr Verbrechen? Gar keins, aber auch sie hatte den Rundfunkbeitrag nicht gezahlt. Es waren 181 Euro, die bei ARD und ZDF fehlten.

Als sie damals abgeführt wird, blickt Sieglinde Baumert noch einmal in die Gesichter ihrer Kollegen, erkennt den Schock in ihren Mienen. Trotzdem erinnert sie sich viel später: In diesem Moment wird alles klarer, eine innere Anspannung löst sich. Die Monate der Ungewißheit und des Nervenkriegs sind vorbei. Was sie in diesem Moment fühlt, das wird auch Georg Thiel mit ihr teilen.

Marbeck, ein Dorf nahe Borken: Am 25. Februar 2021 schützen zwei Polizisten das Leben der Gerichtsvollzieherin. Georg Thiel öffnet die Wohnungstür und bittet alle Besucher herein. Er leistet keine „freiwillige Zahlung“ des Rundfunkbeitrags, er gibt keine „freiwillige Vermögensauskunft“. Die Gerichtsvollzieherin läßt ihn um 10.15 Uhr verhaften. Was kostet es, in Deutschland einen Menschen ins Gefängnis zu bringen? 39 Euro für die Verhaftung, 20 Euro für den Haftbefehl, die Fahrt ins Gefängnis geht auf Staatskosten.

Thiel sitzt auf der Rückbank eines Streifenwagens, er wird in Münster am Gefängnistor abgeladen, der Haftbefehl wird übergeben; die Tür schließt sich für ihn. Wie lange kann eine solche Haft hinter den Mauern aus rotem Klinkerstein schon dauern? Im Normalfall sind es nur Stunden, der Schock in der Zelle genügt. Déjà-vu: Es ist wie 2016 bei Sieglinde Baumert. Thiel wird nicht aufgeben und bis zur Höchstdauer von sechs Monaten durchhalten: „Ich will auf dieses Problem aufmerksam machen.“

Im Grunde ist das Problem sehr einfach: Thiel besitzt weder Fernseher noch Radio. Er will nicht für ein Programm zahlen müssen, das er nicht schaut und dem er nicht traut. Er hat wenig Geld, und das möchte er weder ARD noch ZDF geben, weil dann nichts mehr für andere Medien übrigbleibt. Er sieht darin das Gegenteil von Ausgewogenheit und Vielfalt. Und nach einer aktuellen Insa-Umfrage ist Thiel damit nicht allein: 31 Prozent der Deutschen halten die Öffentlich-Rechtlichen inzwischen für parteiisch, nur noch 45 Prozent glauben an eine ausgewogene Berichterstattung.

Millionen waren wie Georg Thiel einmal offiziell von der GEZ befreit, jetzt nimmt der Rundfunk jeden in die finanzielle Kollektivhaftung, nur weil er wohnt. Inzwischen hat es viele getroffen, der Beitragsservice legte die Zahlen für 2020 auf den Tisch. Es gab wieder 17,7 Millionen Mahnmaßnahmen, wieder 1,23 Millionen Vollstreckungen. Man muß mit diesen Menschen sprechen, um zu erahnen, daß die ARD seit Jahren hier die Wut wie ein Feuer schürt. „Wir werden erpreßt“, sagt Georg Thiel – und nach 181 Tagen Haft werden ihm nur noch wenige ins Wort fallen. 

Wer sich nicht fügen will, der wird mit staatlichen Zwangsmitteln malträtiert. „Das ist doch Wahnsinn, welche Rechte die haben und wie das alles ineinander verzahnt ist. Es sind doch nur Sender, wer hat das bloß zugelassen?“ Thiel tut, was sich Millionen andere nicht mehr trauen: Er sagt bis zum Schluß: „Nein!“ – mit allen Konsequenzen.

„Tag für Tag erhält er 

Briefe mit guten Wünschen“

Georg Thiel erreichen Tag für Tag gute Wünsche: Briefe, Briefe, bergeweise Briefe. Am Ende seiner Haft wird er 1.100 in den Händen gehalten haben, fühlte das Papier, spürte die Hoffnung der Menschen da draußen und las ihre Gedanken: „Held, die Menschen nennen mich einen Helden“, erzählt er. „Diese Briefe geben mir Kraft. Ich weiß jetzt, daß viele hinter mir stehen.“ Es ist auch ein Protest gegen Tom Buhrow. Der WDR-Intendant und ARD-Vorsitzende darf sich über mehr als das dreißigfache Jahreseinkommen freuen, muß aber wie Thiel auch nur 17,50 Euro im Monat zahlen. Während die einen nicht einmal merken, daß da etwas fehlt, tut es den anderen weh: Sie fühlen sich bevormundet.

Deutschland im März 2021: Georg Thiels Haft ventiliert den aufgestauten Unmut über ARD und ZDF. Woche um Woche vergeht, immer mehr Journalisten fragen nach, immer mehr Medien berichten. Menschen wundern sich: Wer hat diese Haft gewollt, wer will sie immer noch? Gibt es das, einen ARD-Tatort ohne Täter? Der WDR konstruiert einen Tathergang voller Lücken: Der Sender verschweigt der Öffentlichkeit, was er selbst getan hat.

Katrin Vernau, WDR-Verwaltungsdirektorin und Vorsitzende des Verwaltungsrats des Beitragsservice, schreibt am 16. März: Die „Stadtkassen“ würden den „Haftbefehl beantragen“. Das ist bei weitem nicht die ganze Wahrheit. Ja, die Stadt Borken hat den Haftbefehl offiziell beantragt, doch er bleibt zunächst ein stumpfes Schwert.

Bei den Gerichten ergehen solche Haftbefehle ohnehin wie am Fließband. Der Landesrechnungshof Nordrhein-Westfalen hat das bereits kritisiert: 2008 wurden allein in NRW über 120.000 solcher Papiere ausgestellt; damit wird Geld eingetrieben, aber die Haftbefehle produzieren im Vergleich dazu „etwa das Sechsfache an Justizkosten“. Sie sind Routine in der behördlichen Vollstreckung, es wird damit gewedelt und gedroht, und der Rest erledigt sich hoffentlich von selbst. Es ist das Kopfkino bei den Menschen; es ist die Angst, die am Ende das Portemonnaie öffnet.

Der Autor dieses Textes wagte selbst das Experiment: Er zahlte den Rundfunkbeitrag nicht, saß auch vor einem Gerichtsvollzieher – und der sprach einen Satz, der im Gedächtnis bleibt: „Sie haben Möglichkeiten, aber Sie haben keine Wahl mehr.“ Der Autor könne es sich einfach machen und den Rundfunkbeitrag zahlen. Ansonsten müsse er die Vermögensauskunft geben.

Wer tut das? Bei einem Massentermin sagt ein Mann mit nur einem Arm, daß er sich darauf freue: „Ich habe nichts mehr zu verlieren, und das lasse ich mir alle zwei Jahre amtlich bescheinigen.“ Wer noch etwas zu verlieren hat, der gibt keine ehrliche Vermögensauskunft, weil dann Konten oder der Lohn gepfändet werden – da sollte man lieber gleich zahlen. Also sitzt der Autor auf dem heißen Stuhl und hört dem brüllenden Gerichtsvollzieher zu: Zahlen, Vermögensauskunft oder Haftbefehl! Da droht Unheil, es könnte passieren!

Und dann? Nichts. Der Haftbefehl kann über uns schweben, scheinbar wie ein Damoklesschwert. Er bleibt ein stumpfes Schwert, diese Haftbefehle werden praktisch nie scharf geschaltet. Am Ende geht es darum, daß wir uns aus der Angst heraus selbst zum Zahlen zwingen. Der Gerichtsvollzieher schreibt nach dem Termin verschnupft an den Beitragsservice: „Der Gläubiger [also der Südwestrundfunk] kann jetzt eine Verhaftung beantragen.“

„Sie haben Möglichkeiten, aber Sie haben keine Wahl“

Das verrät einiges über das Verhältnis der Bürokratie zu ihren Bürgern. Im Fall Thiel erklärt es aber nichts. Auf der ganzen Welt gäbe es nicht genügend Zellen für all diese Haftbefehle. Sie bleiben eine Flut leerer Drohungen. Sie selbst bringen keinen einzigen Menschen hinter Gitter. Auch der Haftbefehl gegen Georg Thiel bleibt zunächst nur ein Stück Papier. Er mußte scharf geschaltet werden, die Verhaftung mußte also gewollt und beauftragt werden. Heute und dank der Akten wissen wir, wem die Rolle des Scharfmachers zukommt: dem WDR als Gläubiger des Rundfunkbeitrags; nicht der Stadt Borken.

In aller Öffentlichkeit wäscht der WDR seine Hände in Unschuld und schiebt den „Stadtkassen“ die alleinige Verantwortung für einen Beitragsschuldner im Gefängnis zu – damit wird die 40.000-EinwohnerStadt nördlich des Ruhrgebiets zur Zielscheibe. Eine Mail der Stadtverwaltung Borken vom 23. März an den WDR beweist: Die Brandungswellen der Empörung hinterlassen tiefe Spuren im Münsterland: Man stehe dort „medial stark im Fokus“, kämpfe gegen eine Flut von Anrufen und Mails, und das rufe ein „Negativimage hervor, welches der Stadt Borken nicht zuträglich ist“. Man möchte vom WDR wissen, „wie lange“ Georg Thiel noch in der JVA Münster sitzen soll, „ob eine weitere Beugehaft noch sinnvoll ist“.

Eine Antwort aus Köln kommt drei Stunden später: Der WDR hält an seiner „bisherigen Auffassung fest“, die Haft soll „bestehen bleiben“. Thiel habe sich „nicht kooperativ gezeigt“. Der Sender will ihn nicht freilassen, denn „dann wird er in seiner Community sicher als ‘Held’ oder ‘Märtyrer’ gefeiert werden und es wird propagiert werden, daß man nur hartnäckig bleiben muß, um der Zahlung des Rundfunkbeitrags zu entgehen“.

Georg Thiel zieht seinen Haftprotest durch: Wochen kommen und gehen. Umso mehr Medien berichten, desto öfter gibt sich der WDR unwissend, unbeteiligt, unschuldig und macht damit die Stadt Borken zum Blitzableiter. Dort reißt in der Chef­etage der Stadtverwaltung mehr als nur ein Geduldsfaden, das legt zumindest eine Mail vom 3. Mai an den WDR nahe. Die Stadt sei „entsetzt“ darüber, was der WDR in den Medien behaupte. Es sei „sachlich falsch und offensichtlich davon geprägt, keine Verantwortung übernehmen zu wollen“.

Borken erinnert daran, daß Thiels Verhaftung mit dem WDR „abgestimmt war“. Am 9. März habe der Sender mitgeteilt, „daß die Haft für vier Wochen aufrechterhalten werden soll“. Die Anstalt von Intendant Tom Buhrow wird „dringend gebeten“, die „Frage der Verhältnismäßigkeit zu überprüfen, die nach unserer Einschätzung […] mit einer Dauer der Erzwingungshaft von mehr als acht Wochen nicht mehr gegeben ist“.

In der Mail findet sich ein Schlüsselsatz: „Wenn Sie jetzt lapidar schreiben, daß ‘die Entscheidung über das weitere Vorgehen bei der zuständigen Vollstreckungsbehörde liegt’, ist das falsch und irreführend.“ Der Gläubiger des Rundfunkbeitrags – also der WDR – könne die Haft von Georg Thiel jederzeit beenden. Borken erwarte „dringend und kurzfristig eine Klarstellung gegenüber den Medien“.

Warum der WDR Spuren 

in den Akten vermeiden will

Die Antwort aus Köln kommt am 5. Mai und fällt kurios aus: Der Sender wird die Haft nicht beenden, weil er dann auf seine „Forderung“ verzichten müßte – also den Rundfunkbeitrag. Das ist falsch. Die Festsetzungsbescheide gegen Georg Thiel bleiben 30 Jahre lang vollstreckbar. Der WDR kann sich auch nicht mehr erinnern, daß er die Haftdauer für Thiel auf „nur vier Wochen“ begrenzt habe.

Überhaupt scheint der Kölner Rundfunkkoloß unter retrograder Amnesie zu leiden: „Wir wurden weder über die unmittelbar drohende noch über die erfolgte Inhaftierung informiert.“ Wir haben „erst einen Tag später über unser Social-Media-Monitoring [davon] erfahren“.

Pflegt die Rundfunkanstalt nur ein sehr flexibles Verhältnis zur Wahrheit? Weiß dort die eine Hand nicht, was die andere tut? Die Stadt Borken merkt: Dem WDR muß erklärt werden, was der WDR angerichtet hat. Die Stadt schnürt ein Paket. Akten, Telefonnotizen, Mailverkehr, alles wird gesammelt. Der gesamte Fall Thiel wird auf sechs Seiten rekonstruiert. Die Äußerungen des WDR werden sortiert und berichtigt. Obendrauf gibt es ein vier Seiten langes Rechtsgutachten.

Und was hat es gebracht? Kurz gesagt: Borken durfte im „Außenverhältnis“ gegenüber Georg Thiel die Peitsche schwingen; die Stadt durfte so tun, als ob sie selbst handelt, sie durfte beim Amtsgericht die Verhaftung beantragen. Im „Innenverhältnis“ mußte Borken aber mit dem WDR als Gläubiger alles abstimmen, was „von besonderer Tragweite“ ist – und dazu gehört ganz sicher eine Verhaftung. Dafür mußte vorher „eine Anordnung des Gläubigers eingeholt werden“.

Genau das passiert am 7. Juli 2020: Die Stadt schreibt an den Westdeutschen Rundfunk in Köln und will wissen, ob dieser eine Verhaftung von Georg Thiel durchziehen lassen möchte. Beim WDR bleibt dieses Schreiben unbeantwortet.

Wir haben es gesehen: Dieser Sender nimmt der Stadt das Zepter aus der Hand, er treibt die Verhaftung unnachgiebig voran – es passiert „immer telefonisch“; ganz offensichtlich soll das Spuren in den Akten verhindern, die zurück nach Köln führen.

Noch keiner hat so penibel das Vollstreckungsregime des Rundfunks bloßgestellt. Allerdings beantragt Borken auch die Haft von Georg Thiel, weil es der WDR so will. Ist die Stadt nun Täterin oder selbst nur Getriebene der Rundfunkmilliardäre?

Das Resümee fällt im Rechtsgutachten ernüchternd aus: Der WDR kann die Haft von Georg Thiel beenden, will es aber nicht. Die Stadt Borken will die Haft beenden und kann es auch – zumindest im „Außenverhältnis“. Im „Innenverhältnis“ – also hinter den Kulissen – ist sie aber an die Weisungen des WDR gebunden, und der senkt über Georg Thiel ganz klar den Daumen.

Wer an Borken denkt, der denkt in Zukunft an die Heimat einer Schildbürger-Bürokratie – eine Stadt, die wegen ein paar hundert Euro keine Grenzen mehr kannte; wo Bürger verhaftet werden und am Ende begleicht die Allgemeinheit die großen Rechnungen. Für einen einzigen Haftkostenplatz zahlt der Steuerzahler in NRW statistisch 135 Euro – pro Tag. 181 Tage ergeben 24.435 Euro. Der Rundfunkbeitrag, die 465 Euro, um den es hier geht, der fließt sowieso nach Köln. Im Fall von Georg Thiel aber nicht einmal das. Was der WDR wohl je tragen wird? Alles Zukunftsmusik.

Die Stadt Borken 

möchte die Farce beenden

So also schaut Deutschland auf Borken: Das ist der Preis, eine „Vollstreckungsbehörde“ des Rundfunks zu sein, und es ist immer noch nicht die ganze Wahrheit. Im Mai will Borken für die Freiheit von Georg Thiel kämpfen – die Sorge um das eigene Image wiegt offenbar schwer.

Der WDR bekommt von der Stadt Borken einen Wink mit dem Zaunpfahl: Wenn sich die Anstalt öffentlich weiter unwissend gibt, stellt sie die Rechtmäßigkeit dieser Haft in Frage, und damit hätte Georg Thiel „Ansprüche“. Vom Sinn dieser Zwangsmaßnahme ist hinter den Kulissen ohnehin niemand überzeugt, „da keine Aussicht auf Erfolg der Abnahme der Vermögensauskunft mehr besteht. Es ist nicht davon auszugehen, daß die Beugehaft noch zu einem positiven Ergebnis führt“.

Und trotzdem wird Georg weitere drei weitere Monate einsitzen, weil der Sender mit der Maus nicht nachgeben will. Thiel übrigens auch nicht. Spätestens jetzt hätte es eine ernsthafte Debatte im Land geben müssen. Wird diese Haft vom WDR zweckentfremdet? Will die Anstalt von Intendant Buhrow auf diese Weise einen Menschen abstrafen, der lautstark den Rundfunkbeitrag verweigert?

Borken möchte diese Farce leise beenden. Es gibt Telefongespräche und „Ergebnisse“, da liegt endlich ein Konsens in der Luft. Am 7. Mai schlägt die Stadt dem WDR einen mehrstufigen Plan vor: Die Rundfunkanstalt und die Stadt wollen auf offener Bühne reinen Tisch machen, sie wollen sich „gemeinsam darauf verständigen“: Georg Thiel kommt frei! Der Sender soll erklären, daß diese Haft „abgestimmt“ war.

Eine Pressemitteilung liegt bereits in der Schublade, vielleicht rettet sie Borkens Ehre: „Der entstehende Aufwand auf der einen Seite und die zwangsweise Durchsetzung der Forderungen auf der anderen Seite sind abzuwägen. Ein weiteres Festhalten an der Erzwingungshaft erscheint derzeit weder erfolgversprechend noch angemessen in der Zweck-Mittel-Relation.“ Borken ruft, und Köln wird nicht antworten: Funkstille. Am 12. Mai hakt die Stadt nach und bittet um ein „zeitnahes Feedback“.

Pyrrhussieg: 

David gegen Goliath

Der WDR bedankt sich noch am gleichen Tag in einer Mail für die „konstruktiven Vorschläge“ und die „bewährte Zusammenarbeit“ und erteilt eine Absage. Keine Freiheit. Sie lassen ihn nicht gehen und hätten Thiel wohl gerne für immer in der Zelle vergessen. Nach sechs Monaten muß die Tür aber aufgehen, Höchstdauer, und das für 465 Euro Rundfunkbeitrag. Es war eine lange Partie – David gegen Goliath. Deutschland sah einen wütenden Rundfunk, der sich vergeblich abgemüht hat, der überhaupt keine Grenzen mehr zu kennen schien. Wir sahen einen Menschen, der nie eine Kehrtwende in Betracht gezogen hat. 

Am Morgen des 24. Augusts steht Georg Thiel dann gegen 9.15 Uhr vor dem Gefängnistor in Münster: Acht Kilo leichter, aber frei. Er hat nicht gezahlt. Um den abgemagerten Hals hängt ein handgeschriebenes Pappschild: „Danke WDR!“ – einfach authentisch, ein GEZ-Gandhi.

War es das wert? Vielleicht, aber das war immer noch nicht die ganze Geschichte. Die Causa Thiel ist auch ein Offenbarungseid des Rechtsstaats. In der Zelle, da konnte sich Georg Thiel nur selbst besiegen. Er hat alles erduldet. Außerhalb der Zelle ist da die ganzen sechs Monate lang noch ein Mann. Niemand darf seinen Namen lesen, doch er schreibt in Thiels Namen 60 Seiten lange Klageschriften. Er hat Thiels Vollmacht. Er will, daß Gerichte den GEZ-Gandhi aus dem Gefängnis befreien. Er wollte bereits die Verhaftung verhindern.

Die Absichten sind gut, die Ergebnisse sind es nicht. Es hagelt Niederlagen am Amtsgericht Borken und dem Landgericht Münster. Bereits da jubeln und planen sie in Köln. In der Mail des WDR an die Stadt Borken vom 19. März findet sich eine schonungslose Botschaft: „Die Argumentation der Richterin kann uns auch für evtl. künftige Inhaftierungsfälle weiterhelfen.“ Nach dem Haftspiel ist vor dem nächsten Haftspiel?

Klagen gegen Borken, Klagen gegen den WDR, alles geht verloren. Eine Verfassungsbeschwerde wird in Karlsruhe gar nicht erst angenommen. Die Richter stören vor allem zwei Dinge. Erstens: Verfahrensweg nicht beachtet. Zweitens: Es „bestehen erhebliche Zweifel an einer hinreichenden juristischen Qualifikation“ des Mannes, der in Thiels Namen schreibt.

Den Grundrechten 

einen Bärendienst erwiesen

Es ist der billigste aller Siege, aber der WDR trägt die Worte aus Karlsruhe seitdem wie eine heilige Reliquie vor sich her: Gegen die Verhaftung sei „verfassungsrechtlich nichts zu erinnern“. Darf Thiels Haft aber sechs Monate andauern? Da haben auch die Richter Zweifel. Angesichts der geringen Geldforderung von 465 Euro kann sie bereits vorher „unverhältnismäßig werden“.

Natürlich braucht es dafür keine Verfassungshüter. Jedes Kind kennt die Antwort, also auch die Kölner Rundfunkbehörde. Die Frage ist also: Und warum passiert es trotzdem? Warum müssen immer wieder Gerichte die ARD-Sender zurück in den Sattel heben, sobald ihre Zwangsabgabe gefährdet ist?

Karlsruhe entscheidet, daß es über die Verfassungsbeschwerde nicht entscheidet. Dem WDR genügt das. Er schreibt im Mai an die Stadt Borken: „Für die Positionierung des WDR in der Haftangelegenheit Thiel“ war es „ein wichtiger neuer Aspekt“, die Richter hätten die Beschwerde „sehr deutlich zurückgewiesen“. Also bleibt die Tür für Thiel zu. Es muß wohl eine Art Geheimcode in den Zeilen aus Karlsruhe verborgen sein, der nur in den Chefetagen der Rundfunkpaläste zu entschlüsseln ist.

Apropos Geheimnis: Der WDR erklärt der Stadt, daß auch das eigene „anhängige Verfahren beim Bundesverfassungsgericht eine Rolle spielt“. Der Rundfunk will um jeden Preis eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags; Karlsruhe wird die demokratische Entscheidung des Landtags in Sachsen-Anhalt bald aushebeln. Das passiert aber erst im August, und wir sind noch im Mai. Der WDR läßt in den kommenden Monaten keinen Menschen frei, der nicht zahlt. Schließlich sollen bald alle mehr zahlen. Verzichten – das wäre jetzt ein falsches Signal, oder?

Ja, die riesige Verwaltungsabteilung hat beim WDR offenbar nicht viel zu tun – also schreiben sie lange Mails nach Borken, warten ihre Zeit ab und schnitzen Kerbe um Kerbe: Auf die nächste Entscheidung eines Gerichts, „das Herr Thiel vermutlich zeitnah wieder anrufen wird oder schon angerufen hat“. Bislang spielte die Erzwingungshaft in der Justiz kaum eine Rolle, weil praktisch niemand verhaftet wurde – der WDR läßt Fakten schaffen. Die milliardenschwere Rundfunkbehörde hat offenbar selbst nicht erwartet, daß diese Haft eines Menschen sechs Monate lang widerspruchslos hingenommen wird. Danke, liebe Richter, es läßt das Schlimmste befürchten. Auf die kommenden Haftfälle der ARD. Soll es so enden?

Nein, aber wer will in ein juristisches Tennisspiel einsteigen, das praktisch verloren ist? Zweiter Satz, immer noch kein Punkt und der Gegner hat Matchball. Welcher Anwalt läuft da noch aufs Spielfeld? Thorsten Bölck. Er führte Hunderte Gerichtsverfahren gegen den Rundfunk, sie mündeten in den Verfassungsbeschwerden von 50 Bürgern. Bölck hat sie 2018 nach Karlsruhe getragen.

Erzwingungshaft spielte bislang kaum eine Rolle

Heute führt uns der Rundfunkbeitrag ins Gefängnis. Bölck kann mit den Bällen weiterspielen, die vor Gericht bereits abgeschmettert wurden. Er kann aber auch nach neuen Fakten im Fall Thiel suchen. Der WDR sitzt auf einer Truhe voller Fakten: seinen Akten. Dort steht, was der Rundfunk und die Stadt Borken im Haftfall getan haben. In Köln würden sie offenbar aber lieber sterben, als diese Truhe zu öffnen. Der Antrag wird abgelehnt: Es gibt keinen Zugang zu „WDR-internen Unterlagen, Vermerken, Abstimmungen, entscheidenden Personen hinsichtlich der Vollstreckung […]. Hierdurch würde in massiver und nachhaltiger Weise die Effektivität der Vollstreckungsmaßnahmen […] gefährdet“.

Allerdings winkt ein Trostpreis: Der Sender wird an das Verwaltungsgericht Münster Unterlagen senden. Auch hier führt Georg Thiel ein Verfahren. „Sie haben dort Gelegenheit zur Akteneinsicht“, schreibt der WDR. „Das haben wir dann getan“, sagt Bölck. Er reist von Schleswig-Holstein nach Münster und besucht Georg Thiel im Gefängnis.

Am Verwaltungsgericht Münster heißt der Trostpreis „Beiakte, Heft 2“. Es sind 156 Seiten vom WDR, der Sender hat sie an das Gericht geschickt – und darunter befinden sich auch Unterlagen aus Borken. Ja, es ist das Paket, was die Stadt im Mai geschnürt hat, damit der Rundfunk erfährt, was der Rundfunk im Fall Thiel getan hat. Es ist wohl einfach mit durchgerutscht. Für ein Gesamtbild fehlen weitere Puzzleteile, also folgt die Akteneinsicht bei der Stadt und dem Amtsgericht Borken, insgesamt über 476 Seiten. Jetzt wird es deutlich: Es war alles ganz anderes. Die Akten widerlegen die Aussagen des WDR, Borken drängte auf ein Ende der Haft, der Öffentlichkeit wurde diese Wahrheit vorenthalten.

Wir erinnern uns: Die Stadt erklärt in ihrem Mailverkehr mit dem WDR am 3. und am 7. Mai: Eine Fortführung der Haft von Georg Thiel ist nicht mehr verhältnismäßig. Die Stadt will eine Haft, die zu nichts führt, endlich beenden, aber der WDR bläst die Aktion ab. Borken ist irritiert. Hatte die Anstalt von Intendant Tom Buhrow nicht zugesichert, „daß jede Entscheidung der Stadtkasse mitgetragen wird“? Nach dem Veto aus Köln rührt man im Münsterland offenbar keinen Finger mehr für Georg Thiel.

Die Akten halten diesen Moment fest, und der ist für Bölck entscheidend. Es ist der Schlüssel, der die Zellentür öffnet. „Bei jedem Rechtseingriff muß geprüft werden: Ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch gewahrt? Wenn nicht, muß der Eingriff allein deswegen beendet werden. Das ist zwingendes Recht, kein unverbindlicher Appell. Man muß danach handeln, und das hat die Stadt nicht.“ Was Borken tut – oder besser gesagt nicht tut –, das ist „rechtlich falsch, das ist politisch falsch“.

Behörden und Gerichte produzieren im Fall Thiel kiloweise Akten und schütten damit eine ganz einfache Wahrheit zu. Der Fall wäre sonnenklar, eigentlich. Recht haben und Recht bekommen, das wird bei Georg Thiel zum Krimi. 

Die Wahrheit: Verschüttet unter kiloweise Akten

Thorsten Bölck will in einem Eilverfahren die Gefängnistür öffnen – noch vor Ablauf der sechs Monate: Borken soll den Auftrag zur Verhaftung zurücknehmen. Die Stadt wollte es bereits im Mai tun, drei Monate später ist diese Haft gewiß nicht verhältnismäßiger. Borken blockt. Die Stadt verweist auf Verfahren, die in Georg Thiels Namen schon an drei verschiedenen Gerichten laufen – oder besser gesagt: verlorengingen.

Es gibt noch einen Hebel: Das Verwaltungsgericht Münster könnte die Stadt Borken zwingen, den Antrag auf Verhaftung zurückzunehmen. Dafür muß das Gericht eine einstweilige Anordnung erlassen, die muß aber erst beantragt werden, dafür braucht der Anwalt das Einverständnis seines Mandanten – und die Zeit wird knapp. Ein bürokratischer Wettlauf um die Freiheit von Georg Thiel beginnt.

Wie erreicht diese Botschaft den GEZ-Häftling so schnell wie möglich in der Zelle? Das übernimmt Olaf Kretschmann. Der Berliner sammelt auf seiner Seite rundfunk-frei.de Spenden für Georg Thiel; beide telefonieren seit Monaten regelmäßig. Am 22. Juli schickt Kretschmann ein Fax an die Justizvollzugsanstalt Münster. Und dann? Nichts. Am 26. Juli schickt Kretschmann ein weiteres Fax nach Münster, mit Bölcks Entwürfen für eine neue Verfassungsbeschwerde.

Ergibt die noch Sinn? Kurz gesagt: Ja, denn jetzt sind alle Instanzen ausgeschöpft. Thiels Erzwingungshaft kann nicht mehr verhältnismäßig sein, weil sie viel mehr kostet, als die Geldforderung jemals einbringen könnte – also die 465 Euro Rundfunkbeitrag. Die gesetzlichen Haftkosten betragen in der JVA Münster 458 Euro – pro Monat. Die statistischen Haftkosten betragen nach Angaben des nordrhein-westfälischen Justizministeriums 135 Euro – pro Tag.

Funkstille: Georg Thiel antwortet nicht. Befindet sich zwischen dem Faxgerät in der JVA Münster und seiner Zelle ein Hindernisparcours? Kretschmann wartet vergeblich auf einen Rückruf. Der Autor schreibt an die JVA Münster, er bittet um ein Telefonat. Nichts. Niemand kann in diesen Tagen einen Kontakt herstellen. Am 24. August kommt Georg Thiel ohnehin frei, und dieser Stichtag rückt näher und näher.

Am 10. August liegt dann endlich Post im Briefkasten von Thorsten Bölck: Eine zweite Verfassungsbeschwerde möchte Georg Thiel nicht, aber natürlich soll das Verwaltungsgericht Münster ein Ende seiner Haft anordnen. Er entschuldigt sich beim Anwalt, die JVA Münster hätte ihm das Fax erst jetzt vorgelegt.

Am 11. August geht Bölcks Schreiben beim Verwaltungsgericht Münster ein. Es ist noch nicht zu spät, die Richterin kann sofort eine einstweilige Anordnung erlassen. Georg Thiel kann zehn Tage früher als geplant wieder ein freier Mann sein. Im Grunde geht es aber um mehr. Das hier ist passiert, das ist Zeitgeschichte: Eine Haft, die längst als unverhältnismäßig gilt, wird nicht gestoppt. Der WDR wünscht offenbar keine weiteren Negativschlagzeilen, bevor Karlsruhe die Erhöhung des Rundfunkbeitrags verkündet. Laßt uns das wenigstens vor einem Gericht festhalten – auch für die Akten.

Am 11. August, nur wenige Stunden später, lehnt die Richterin am Verwaltungsgericht Münster den Antrag ab. Über die Frage der Verhältnismäßigkeit müsse das Amtsgericht Borken entscheiden, aber in dieser Instanz hat Georg Thiel ja schon längst verloren. 

Da zeigt ein Anwalt einer Richterin, was in den Akten steht, die an ihrem Gericht liegen: Die Stadt Borken erkennt, daß eine Fortführung der Haft von Georg Thiel nach acht Wochen weder verhältnismäßig noch „erfolgversprechend“ sei. Man gehe nicht mehr davon aus, daß Thiel noch zahlt oder eine Vermögensauskunft gibt – das ist der Zweck dieser Haft. Borken weist den WDR dringend darauf hin und sieht eine „Zweck-Mittel-Relation“ nicht mehr gegeben. Und nichts davon soll am Ende eine Rolle spielen.

Was sagt Bölck? „Deutlicher als durch ein solches Zugeständnis der Stadt kann ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht offenbar werden.“

Wer sich gegen die Rundfunkgebühren engagieren will, kann das hier tun:  

www.rundfunk-frei.de  

www.rundfunkbeitragswiderstand.de

Schreiben des WDR aus den Dokumenten der Stadt Borken und Übersicht der Jahreseinnahmen der Rundfunkanstalten siehe: https://www.jf-archiv.de/archiv21/2021401001.pdf