© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Krankheit verschleppt
Inflation: Viele Ökonomen wiegeln ab, doch die Probleme werden offensichtlicher
Ulrich van Suntum

Seit Jahren drucken die großen Zentralbanken Geld in unvorstellbarem Ausmaß. Allein 2020 hat die EZB die Geldmenge M3 um zwölf Prozent ausgeweitet, während gleichzeitig die Wirtschaft im Euroraum um 6,6 Prozent geschrumpft ist. Nicht weniger expansiv ist die Geldpolitik in den USA und Großbritannien gewesen. 

Das geht schon seit der Finanzkrise 2008 so und hätte nach herkömmlicher Theorie eigentlich zu starker Geldentwertung führen müssen. Aber lange Zeit ist nichts dergleichen geschehen, im Gegenteil. Die Inflationsrate im Euroraum unterschritt eher die EZB-Zielmarke von „unter, aber nahe zwei Prozent“, und manche Ökonomen beschworen sogar Deflationsgefahren. Der traditionelle Zusammenhang zwischen Geldmenge und Geldwertstabilität galt vielen deshalb als überholt.

Tatsächlich muß selbst eine stark steigende Geldmenge nicht immer zu Inflation führen. Es kommt vielmehr darauf an, ob das Geld auch in den Wirtschaftskreislauf gelangt. Das war in den letzten Jahren kaum der Fall. Stattdessen haben Banken, Unternehmen und Privatleute hohe Geldbestände auf ihren Konten gehortet. Dies geschah nicht zuletzt wegen der niedrigen Zinsen: Wenn alternative Kapitalanlagen zum Beispiel in festverzinsliche Wertpapiere ohnehin kaum noch Rendite erbringen, kann man sein Pulver lieber trocken lassen und auf bessere Zeiten hoffen. Der berühmte Ökonom John Maynard Keynes hat nach der Weltwirtschaftskrise 1936 dafür den Begriff der Liquiditätsfalle geprägt.

Sie funktioniert aber nur, solange der Geldwert einigermaßen stabil bleibt. Beginnen dagegen die Preise zu laufen, geht die Rechnung nicht mehr auf. Bereits eine Inflationsrate von zwei Prozent halbiert innerhalb von nur 35 Jahren den Wert jeder unverzinslichen Geldanlage. Werden gar Minuszinsen fällig, geht es noch schneller, erst recht bei höheren Preissteigerungsraten. Damit wird es höchste Zeit, die Geldhorte aufzulösen und in reale Anlagen wie etwa Immobilien oder in den Konsum zu flüchten. 

Wie eine Lawine ergießt sich dann das viele Geld plötzlich über die Wirtschaft und treibt die Preise erst recht nach oben. Ist dieser Prozeß erst einmal in Gang gekommen, gibt es bald kein Halten mehr. Im schlimmsten Fall droht eine Hyperinflation wie 1923 in Deutschland. In der Wirtschaftsgeschichte ist so etwas bisher immerhin rund 60mal vorgekommen, zuerst in Frankreich (1795) und zuletzt in Venezuela (2016) und Simbabwe (2019).

Davon sind wir derzeit noch weit entfernt. Aber immerhin, die Preise ziehen inzwischen weltweit an. Im September wurde in Deutschland mit 4,1 Prozent die höchste Inflationsrate seit 28 Jahren gemessen, in den USA hat sie bereits 6 Prozent erreicht. Viele Ökonomen wiegeln ab, vor allem wenn sie der Regierung oder der Zentralbank nahestehen. 

So verweisen der frühere „Gewerkschaftsweise“ Peter Bofinger und DIW-Chef Fratzscher, der selbst einst bei der EZB gearbeitet hat, auf vorübergehende Sonderfaktoren. Demnach treiben derzeit vor allem CO2-Steuern, steigende Rohstoffpreise und die inzwischen wieder erhöhte Mehrwertsteuer die Preise. Mit der Geldmenge habe das nichts zu tun. 

EZB-Direktorin Isabel Schnabel findet die aktuelle Inflationsentwicklung sogar „weiterhin eher zu niedrig“. Sie verwies dabei auf das neue Ziel der EZB, wonach nunmehr zwei Prozent Preissteigerung im Durchschnitt angestrebt werden. Im Klartext: Nachdem man in den letzten Jahren eher darunter lag, müsse nun die versäumte Geldentwertung quasi nachgeholt werden. Eine fundierte Begründung dafür gibt es freilich nicht, und in der Fachwelt hat das neue EZB-Ziel denn auch berechtigte Kritik hervorgerufen.

Niemand kann derzeit sicher sagen, wie es mit der Geldentwertung weitergeht. Klar ist aber, daß auch schon ein vorübergehender Inflationsanstieg die Sparer dauerhaft schädigt. Denn ein Rückgang der Inflation von vier auf zwei Prozent bedeutet ja nicht etwa die Wiederherstellung des alten Geldwertes. Vielmehr verlangsamt sich dann nur etwas das Tempo, mit dem die Bürger heimlich enteignet werden. 

Und es ist auch nicht wahr, daß diese sich davor einfach durch Umschichtung ihres Vermögens in Aktien oder Immobilien schützen könnten. Denn dann hat das Geld lediglich ein anderer, der es auch nur so schnell wie möglich loszuwerden versuchen kann. Gesamtwirtschaftlich gelingt dies deshalb niemals wirklich, und so kann der Staat diesem Schneeballspiel in aller Seelenruhe zusehen. Als größter Schuldner der Volkswirtschaft ist er der eigentliche Profiteur der Geldentwertung. Kein Wunder also, daß die Regierung die Gefahren gerne herunterspielt. 

So werden ihre Hausökonomen Fratzscher und Co. nicht müde zu behaupten, der Euro sei bisher viel stabiler gewesen als die D-Mark. Tatsächlich war die Geldentwertung damals noch stärker, aber sie wurde mehr als ausgeglichen durch entsprechend hohe Zinsen. Das ist heute völlig anders, und deshalb fahren die deutschen Sparer unter dem Strich mit dem Euro deutlich schlechter als mit der D-Mark. Seit Ende 2010 haben sie durch Niedrigzinsen und Inflation schon rund 152 Milliarden Euro verloren; das sind rein rechnerisch 3.662 Euro pro Haushalt. 

Zu befürchten ist, daß dieser Prozeß beschleunigt weitergeht. Denn die EZB macht bisher keine Anstalten, endlich die Zinsen zu erhöhen und damit den Geldüberhang behutsam abzubauen. Zum einen scheint sie die Dynamik aus anziehenden Inflationserwartungen und einer daraus folgenden Lohn- und Preisspirale zu unterschätzen. Zum anderen will sie aber auch die hochverschuldeten Regierungen nicht in Schwierigkeiten bringen. Damit verschleppt sie die Krankheit immer weiter, so wie früher die Banca d’Italia und die Banque de France. Zu spät merken jetzt die Deutschen, daß sie mit dem Euro faktisch eine neue Lira erhalten haben.






Prof. Ulrich van Suntum ist Volkswirt, lehrte von 1995 bis 2020 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und war Generalsekretär der sogenannten Wirtschaftsweisen.