© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

„Gefahr eines totalitären Systems“
Läßt die Wissenschaft sich von der Politik mißbrauchen? Das beobachtet der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld in seinem neuen Buch: Die Trennung von Fakten und Normen wurde in der Corona-Krise vielfach aufgegeben
Moritz Schwarz

Herr Professor Esfeld, inwiefern „bedrohen Corona-Politik und der Mißbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft“, wie der Titel Ihres Buches warnt?

Michael Esfeld: Die Corona-Politik wird zum großen Teil damit begründet, daß sie den Forderungen der Wissenschaft entspreche – was aber nicht stimmt.

Warum – fordert die Wissenschaft denn etwas anderes? 

Esfeld: Die Vorstellung, die Wissenschaft könne ein bestimmtes Handeln von der Gesellschaft einfordern, ist falsch. Wissenschaft liefert Fakten, aber keine Normen. Wissenschaft kann klären, ob Rauchen schädlich ist, aber nicht, ob geraucht werden darf oder nicht. Sie kann feststellen, daß Autos die Umwelt belasten, aber nicht, daß sie deshalb verboten werden müssen. Sie kann herausfinden, welche Ernährung und Verhaltensweisen ungesund sind, aber nicht vorschreiben, was wir zu essen und wie wir zu leben haben. Das hängt jeweils von normativen Prämissen ab, also dem, was Individuen, soziale Gruppen oder eine Gesellschaft für wichtig halten.

Im Fall Corona ist doch klar, daß uns allen die Volksgesundheit wichtig ist. Ist Ihre Unterscheidung also nicht Haarspalterei?

Esfeld: Nein. Gesundheit ist kein absoluter Wert. Sonst müßten wir alles verbieten, was irgendwie schädlich sein könnte. Aber niemand lebt für das Leben allein, sondern für das, was für sie oder ihn ein sinnvolles Leben ist. Dafür geht man bestimmte Risiken ein. Weil die Lebensziele und die Risikoabwägungen verschieden sind, gibt es keine allgemeine Norm der Volksgesundheit, aus der politische Handlungsanweisungen folgen könnten. Nehmen Sie zum Beispiel die Lockdowns: Durch die soziale Isolation haben diese der Gesundheit vieler Menschen, insbesondere älterer Menschen, massiven Schaden zugefügt und zu Todesfällen geführt. Die Zahlen zeigen zudem inzwischen, daß die Lockdowns keinen Nutzen hatten. Auch in den Ländern ohne Lockdowns ist das Infektionsgeschehen nicht schlimmer verlaufen. Es gibt keine Korrelation zwischen Lockdowns und der Reduktion von schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen, sehr wohl aber massive gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Schäden durch die Lockdowns. Was da geschehen ist, das ist politischer Mißbrauch von Wissenschaft und Wissenschaft, die sich politisch mißbrauchen läßt.

Im Dezember haben Sie selbst der Nationalen Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied Sie sind, in einem offenen Brief solchen Mißbrauch vorgeworfen. 

Esfeld: Die damals veröffentlichte „7. Ad-hoc-Stellungnahme“ der Leopoldina lieferte der Bundesregierung einen angeblichen wissenschaftlichen Beweis der absoluten Notwendigkeit eines erneuten Lockdowns über Weihnachten 2020, was die Bundesregierung dann sofort dankbar aufgriff und umsetzte.

Unter anderem heißt es in Ihrem Brief: „In einer solchen Situation wissenschaftlicher und ethischer Kontroverse sollte die Leopoldina ihre Autorität nicht dazu verwenden, einseitige Stellungnahmen zu verfassen, die vorgeben, eine bestimmte politische Position wissenschaftlich zu untermauern.“

Esfeld: Statt einen erneuten Lockdown zu legitimieren, hätte die Leopoldina das Spektrum der wissenschaftlichen Debatte wiedergeben müssen. Die Akademie sollte der Ort der wissenschaftlichen Debatte sein und nicht ein Organ zur Gleichschaltung von Wissenschaft. So aber hatte ihre Stellungnahme mit Wissenschaft nichts mehr zu tun, sondern war politischer Aktivismus, wenn nicht gar politische Propaganda.

Was steckt dahinter, böse Absicht? 

Esfeld: Das glaube ich nicht. 

Aber so etwas passiert doch nicht aus Versehen.

Esfeld: Ich würde eher von Versuchung sprechen: Früher hielt die Religion Staat und Gesellschaft zusammen und erfüllte das Bedürfnis der Sinnstiftung. Heute hat diese Funktion zum Teil die Wissenschaft übernommen. Dabei erliegen nicht nur Wissenschaftler dieser Versuchung, sondern ebenso auch weite Kreise in der Gesellschaft. Die Gesellschaft als ganze hat seit dem Rückzug der Religion keine Institution mehr, die Orientierung gibt, und manche möchten daher die Wissenschaft in dieser Rolle sehen. Und schließlich sind da Politiker, die davon profitieren, wenn die Wissenschaft diese Rolle übernimmt. 

Inwiefern? 

Esfeld: Ein demokratischer Rechtsstaat ist für Politiker anstrengend, da er Macht begrenzt. Mit angeblicher wissenschaftlicher Legitimation läßt sich diese Macht ausweiten. Wie wir erleben mußten und weiterhin erleben, macht die angebliche wissenschaftliche Legitimation politischer Maßnahmen nicht einmal vor den Grundrechten halt, und kein Verfassungsgericht schreitet ein. Aus den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts wissen wir, daß man mit Wissenschaft alles legitimieren kann. Ich muß mit Schrecken feststellen, daß wir diesen Weg wieder beschreiten. Die Wissenschaftler, die das tun, haben jedes ethische Maß verloren. Sie behandeln die Menschen wie physikalische Objekte, deren Bahnen sie gemäß ihren Modellrechnungen steuern können, statt als Personen, die eine unantastbare Würde haben. Da die Leopoldina mit ihrer Stellungnahme eine solche Entwicklung beförderte und ihr an Aufklärung und Menschenrechten orientiertes Leitbild grob verletzte, fühlte ich mich verpflichtet zu protestieren.

Haben Sie eine Antwort erhalten? 

Esfeld: Nein.

Aber zeigt das nicht, welchen Stellenwert die Akademie ihren hehren Grundsätzen in Wahrheit beimißt?  

Esfeld: Man ist nicht bereit, eine sachliche Debatte zu führen. Das ist in der Tat ein völliges Versagen der Leopoldina.

Sind Sie für Ihren Protest sanktioniert worden? 

Esfeld: Nein.

Allerdings hat Sie die „FAZ“ öffentlich zum „Querdenker-Philosoph“ und „Nestbeschmutzer der Nationalakademie“ ernannt, der unter einem „manifesten Triebstau“ im Sinne von Konrad Lorenz leide. 

Esfeld: Das ist ein bösartiger Kommentar, der zeigt, wie tief die Diskussionskultur inzwischen gesunken ist. Wenn man Argumente hätte, könnte man diese ja vorbringen. Die FAZ, die früher eine seriöse Zeitung war, ist inzwischen nicht einmal mehr in der Lage, Standards von Fairneß einzuhalten: Sie hat sich geweigert, einen Leserbrief von mir zu dem Kommentar zu veröffentlichen. Ich mache nur meine Arbeit als Wissenschaftsphilosoph, die darin besteht, Wissensansprüche kritisch zu untersuchen, im Namen welcher Autorität auch immer sie vorgebracht werden. Es gibt auch andere Fälle: So hat sich etwa die Universität Hannover im letzten Jahr von ihrem Finanzwissenschaftler Stefan Homburg wegen dessen Corona-Kritik distanziert.

Allerdings hat sie ihn doch nicht bestraft. 

Esfeld: Nein, aber normalerweise distanziert sich eine Universität nicht von einem Professor. Es geht hier offenbar um Einschüchterung: Die Bühne soll den Wissenschaftlern überlassen werden, die die Meinung der Regierung vertreten, und die Diskussion darüber soll verhindert werden.

Warum haben sich kaum, wie von Ihnen erhofft, Kollegen gefunden, die Ihren Brief unterstützen wollten?

Esfeld: Ich kenne etliche, die eine vom offiziellen Corona-Kurs abweichende Meinung haben, sich aber aus Angst vor Nachteilen und Anfeindungen nicht trauen, sie öffentlich zu äußern. 

Also hat Ihr Brief gar nichts bewirkt?

Esfeld: Er hat zumindest einiges an öffentlicher Aufmerksamkeit erzeugt, worauf ich gar nicht abgezielt hatte. Und immerhin hat nach seinem Bekanntwerden die Dauerbeschallung der Bevölkerung in Sachen Corona durch die Leopoldina aufgehört. Zudem haben sich seitdem immer mehr Wissenschaftler und Angehörige der Zivilgesellschaft kritisch zu Wort gemeldet. Denken Sie nur an die Aktion #allesdichtmachen oder aktuell #allesaufdentisch. 

Im Moment werden die Corona-Maßnahmen Stück für Stück gelockert. Hat sich damit Ihre Befürchtung der Zerstörung unseres Rechtsstaats nicht erledigt?

Esfeld: Das hatte ich im Frühjahr auch gehofft. Mit dem Impfangebot an alle ist das Ziel der politischen Reaktion auf die Corona-Pandemie erreicht: Jeder, der es möchte, hat die Möglichkeit, sich durch eine Impfung vor der Gefahr zu schützen, die von der Verbreitung des Coronavirus ausgehen kann. Wenn die Impfung wirksam ist, dann hat der Staat jedem mit dem kostenfreien Impfangebot den bestmöglichen Schutz zur Verfügung gestellt, den er leisten kann. Geimpfte sind geschützt, und Ungeimpfte gefährden niemanden, indem sie auf diesen Schutz verzichten. Es ist weder wissenschaftlich noch juristisch oder ethisch gerechtfertigt, in irgendeiner Weise Druck auf Personen auszuüben, die auf eine Impfung verzichten möchten. Die Impfstoffe haben nur eine bedingte Zulassung, die für konkret gefährdete Personen gedacht ist, aber nicht für die Impfung der gesamten Bevölkerung bis hin zu Kindern und Jugendlichen, für die das Virus überhaupt nicht gefährlich ist. Spätestens im September wurde klar, daß es um eine Kampagne geht, so viele Menschen wie möglich ohne Rücksicht auf Recht und Gesetz zu impfen. Es läuft inzwischen für viele darauf hinaus, sich impfen lassen zu müssen, um am Berufs- und am sozialen Leben teilnehmen zu können. Nicht die Bevölkerung entscheidet, sondern politische Planer und die von ihnen favorisierten Wissenschaftler. Und pariert die Bevölkerung nicht, werden eben Daumenschrauben angesetzt. 

Sie kritisieren nicht nur, daß der Rechtsstaat und die Prinzipien der Wissenschaft durch deren Mißbrauch Schaden nehmen, sondern auch konkret die Menschen.

Esfeld: Wissenschaft dient der Aufklärung der Öffentlichkeit, indem sie die Fakten herauszufinden versucht. So wäre es angezeigt, die möglichen Impffolgen weltweit durch Studien systematisch zu untersuchen. Aber das passiert nicht, weil der Diskurs um das Impfen längst politisch überlagert ist.

Es gibt doch solche Untersuchungen. 

Esfeld: Es fehlen längerfristige, systematische Studien mit Kontrollgruppen Ungeimpfter. Das gleiche gilt für die Frage, ob die Maßnahmen nicht mehr Opfer gefordert haben als Corona selbst, oder auch einfach die Frage, ob das ständige Tragen von Masken überhaupt einen nachweisbaren Einfluß auf das Infektionsgeschehen hat. Daß all diese Fragen immer noch offen sind, müßte die Wissenschaft nachdrücklich öffentlich deutlich machen und fordern, sie möglichst rasch umfassend zu erforschen. Indem das nicht geschieht, riskiert man, die Wissenschaft selbst infolge ihres politischen Mißbrauchs zu zerstören. Es gibt dann die einen, die die Regierungslinie kritiklos übernehmen, ohne sie anhand von Fakten belegen zu können. Und es gibt andere, die sich dann zum Teil bis in völlig haltlose Behauptungen hineinsteigern, ohne daß wir ideologiefreie, harte Fakten bekommen, die die Sachlage klären. Wir wissen viel zu wenig darüber, woran die Corona-Toten gestorben sind, ob es auch Todesfälle infolge der Impfung gibt, inwiefern die Impfung nicht nur Selbst-, sondern auch Fremdschutz gewährt, ob sie möglicherweise langfristige negative Folgen hat etc.

Geht es nur um Corona, oder ist nicht auch in anderen Bereichen das Mißbrauchen und sich Mißbrauchenlassen der Wissenschaft gang und gäbe? Etwa in der Klimapolitik oder Migrationspolitik, die auch darauf fußt, daß Einwanderung „wissenschaftlich“ bewiesen bereichert, bei Sexualität und Gender, in der Geschichtswissenschaft, den Sozialwissenschaften, die politische Positionen etwa zum Islam oder Rechtspopulismus als „wissenschaftlich“ verbrämen. Ist nicht fast die ganze Gesellschaft davon betroffen und wohin führt uns das? 

Esfeld: Einwanderung bereichert, wenn es sich um Einwanderung in den Arbeitsmarkt und nicht um Einwanderung in die Sozialsysteme handelt. Die Gefahr ist aber in der Tat, daß wir in ein totalitäres System hineinlaufen, in dem die Fakten so konstruiert werden, daß sie in politisch gewollte Normen passen. Hoffentlich erhebt sich dagegen rechtzeitig genug Widerspruch. Wenn allerdings von nun an eine so dünne Faktenlage wie bei Corona genügt, um Grundrechte auszusetzen, dann kann die Politik künftig alles mögliche durchsetzen, wenn sie nur genug Angst schürt und ein paar Wissenschaftler findet, die alles legitimieren.






Prof. Dr. Michael Esfeld, der Wissenschaftsphilosoph, geboren 1966 in West-Berlin, lehrt an der Universität Lausanne, zuvor an der ETH Zürich, in Köln und Hertfordshire/England. Zudem war er Gastprofessor in Cambridge und Canberra. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und erhielt 2013 den Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Im April erschien sein Buch: „Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Mißbrauch der Wissenschaft die offene Gesellschaft bedrohen“.

Foto: Wissenschaft (Christian Drosten) und Politik (Jens Spahn): „Die Corona-Politik wird zum großen Teil damit begründet, daß sie den Forderungen der Forschung entspreche – was aber nicht stimmt. Aus den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts wissen wir, daß man mit ‘Wissenschaft’ alles legitimieren kann. Ich muß mit Schrecken feststellen, daß wir diesen Weg nun wieder beschreiten.“