© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Die neue linke Queerfront
Bundestag: Vor allem für SPD und Grüne sind zahlreiche junge Abgeordnete eingezogen / Linkspartei leckt Wunden und streitet
Paul Leonhard / Björn Harms

Jünger, weiblicher, diverser soll er sein, der neue Bundestag, liest man allenthalben. Was mit der Frischzellenkur und dem Aufwuchs – bei Grünen und SPD – indes auch einhergeht, ist eine deutliche Linksverschiebung. Anlaß genug, einen genaueren Blick auf einige Veränderungen (weit) links der Mitte zu werfen.

Bei den Grünen sitzen ganze 57 Prozent der Fraktion frisch im Bundestag, viele der neuen Abgeordneten senken das Altersniveau im Hohen Haus deutlich. Der durchschnittliche Neuankömmling der Partei ist gerade mal 38 Jahre alt. Zahlreiche junge Frauen wie Emilia Fester (Jahrgang 1998), Zoe Mayer (1995) oder Merle Spellerberg (1996) bringen dabei ein ähnliches Profil mit. Neben dem Klima setzen sie vor allem auf feministische und antirassistische Inhalte. Oder eben – gemäß sauber auswendig gelernter intersektioneller Ideologiebausteine – auf beides: „Verschiedene Diskriminierungsformen stehen nicht im luftleeren Raum“, erklärt die 23jährige „Queer-Feministin“ Fester auf ihrer Homepage. „Eine Frau, die Kopftuch trägt, erfährt eine andere Art von Sexismus als eine Frau ohne, weil sich ihr gegenüber sexistische Feindseligkeit mit solchen des anti-muslimischen Rassismus paaren.“ 

Die jüngste Abgeordnete der neuen Legislaturperiode will die „Vorherrschaft des Mannes“ durch ein „vielfaltssensibles Paritégesetz“ brechen. Zudem sollen die 200 Millionen Klimaflüchtlinge, die Fester weltweit ausmacht, auf möglichst legalem Wege nach Europa kommen. Schließlich seien wir als koloniale Klimasünder für die Situation verantwortlich. Merle Spellerberg will sich für eine „aktive, antifaschistische Zivilgesellschaft auf der Straße und den Parlamenten“ einsetzen. Mit der Abgrenzung zur Antifa und der linksradikalen Szene haben viele junge Neulinge tatsächlich kaum ein Problem. Kassem Saleh (Jahrgang 1993) likt fleißig Bilder von Antifa-Demonstrationen auf Twitter, Julian Pahlke (1991) bekennt sich mit dem Hashtag #dankeantifa, und die stellvertretende Vorsitzende der Grünen, Jamila Schäfer (1993), hatte sich bereits vor einigen Jahren mit Linksextremisten solidarisiert. Im Zuge des Verbots von Indymedia kritisierte sie, daß hier eine der „wichtigsten Informationsquellen gegen rechte Gewalt kriminalisiert“ werde. Das sei schlicht „verantwortungslos“ und spiele den „rechten Antidemokraten“ in die Hände. „Wir verurteilen diese Maßnahme daher aufs Schärfste und erklären uns solidarisch mit indymedia.linksunten.org!“, so die heute 28jährige damals.

Auch die SPD hat sich einer radikalen Frischzellenkur unterzogen. Die Hälfte ihrer künftigen Abgeordneten ist neu im Bundestag. Die Netzwerke der Jusos und ihres Chefs Kevin Kühnert haben dabei ihr Soll erfüllt. Zumeist mit einem Mandat über die Landeslisten versorgt, sind künftig fast ein Viertel der Fraktion Jungsozialisten – und alle von ihnen stehen für einen strammen Linkskurs. „Diese große Menge an Jusos zu sehen, mit denen ich nun im Bundestag sitzen darf, macht mich unglaublich stolz“, erklärt die frisch gewählte Abgeordnete Jessica Rosenthal (Jahrgang 1992). Die Juso-Chefin gibt die Richtung vor: „Wir stehen für eine gerechtere Zukunft, in der alle das sein und werden können, was wie möchten, unabhängig vom Geldbeutel oder Herkunft der Eltern; für eine Gesellschaft, die sich klar gegen rechts stellt und für ein klimaneutrales Deutschland, das die Klimakrise sofort ernst nimmt und angeht.“ Unter den Neu-SPDlern befindet sich auch der zweitjüngste Abgeordnete des Parlaments, Jakob Blankenburg (Jahrgang 1997), der als Juso-Vorsitzender in Niedersachsen tätig ist. Er veranstaltete in den vergangenen Jahren in Uelzen mehrere Festivals wie „Aufstehen gegen Rassismus“, bei denen die linksradikale Antifa eingeladen war, nicht aber die Junge Union. Frisch in den Bundestag eingezogen ist auch die Berliner Juso-Vorsitzende Annika Klose, die „heteronormative Strukturen bekämpfen“ will: „Ich glaube nicht, daß die Mutter aller Probleme der Kapitalismus ist, sondern das Patriarchat und rassistische Strukturen“, sagt sie. 

„Falsche Gegensätze, die tief gespalten haben“

Da klingt die jüngste Neuabgeordnete der Linkspartei, Heidi Reichinnek, etwas anders. Sie ist bekennende Sozialistin und  will den Kapitalismus gleich ganz abschaffen, auch einem „grünen Kapitalismus“ traue sie nicht. „Rosa Luxemburg ist mein bekennendes Vorbild“, so die 33jährige. 

Doch im Unterschied zu den Grünen und der SPD gehört die Linke eindeutig zu den Verlierern der Wahl am Sonntag vor einer Woche. Eigentlich malten sich viele Genossen der Linkspartei aus, mit am Verhandlungstisch derer zu sitzen, die eine neue Koaltition schmieden, um selbstbewußt den anderen ihre Bedingungen für die Zukunft des Landes zu diktieren. Aber der Wähler hat anders entschieden. Statt Zünglein an der Waage zu sein, liegen die Sozialisten am Boden und lecken sich die Wunden. Nur weil es reicht, in drei Wahlkreisen eine relative Mehrheit auf sich zu vereinen, um jenseits der Fünfprozenthürde mit 39 Abgeordneten in den Bundestag einzuziehen, haben sich die SED-Nachfolger für weitere vier Jahre erfolgreich konserviert. Und da es vorläufig um nichts mehr geht, dürfen sie wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung frönen: sich einander nach Kräften beschimpfen und die Mär von der einzigen Friedenspartei verbreiten.

Wer aber ist schuld am Wahldebakel? Berlin und Leipzig haben mit den drei Direktmandaten die Fraktion gerettet. Der Westen also mit den dort Aktiven aus dem Osten, wie der Realkommunistin Sahra Wagenknecht? Die steht zumindest auf der Liste der Beschuldigten. Ihr Buch „Die Selbstgerechten“ sei zur Unzeit erschienen, habe polarisiert und die verschiedenen Anliegen der Linken wie Klima-, Sozial- und Identitätspolitik gegeneinandergestellt. Dazu noch der Streit um Afghanistan und die Willkommenskultur überhaupt, behaupten Wagenknechts Widersacher. Ihr Ehemann, Ex-Linken-Chef Oskar Lafontaine, zieht sich gerade mal wieder schmollend aus der Politik zurück. Er werde bei der Landtagswahl im Saarland nicht mehr antreten, verkündete der 78jährige. Grund ist der Wiedereinzug des saarländischen Bundestagsspitzenkandidaten Thomas Lutze, dem Lafontaine „Manipulation der Mitgliederlisten“ vorwirft.

Wagenknecht selbst ist wieder in Berlin dabei, wenn auch wieder ohne Direktmandat und über die Landesliste Nordrhein-Westfalen. Obenauf ist sie ohnehin. Zwar betont sie, daß „zunächst“ kein Anlaß für personelle Konsequenzen bestehe, sie weiß aber schon, woran die Partei gescheitert ist: Sie habe sich zu sehr SPD und Grünen angedient und dabei ihre eigene Klientel aus den Augen verloren. Sie habe zu sehr belehrt, statt zugehört, sich zu sehr über mit ihr sympathisierende Studenten gefreut, dabei sei die Linke doch für Arbeitnehmer, für kleine Selbständige und für ältere Menschen gegründet worden.

Die sozialistische Zeitung nd kompakt wirft Wagenknecht vor, schuld am Wechsel von mehr als einer Million Stammwähler zu SPD und Grünen zu sein: Sie habe „falsche Gegensätze aufgebaut, die tief gespalten haben“ und stellt die Schicksalsfrage, mit der es die Genossen zu einen hofft: „Ob die Linkspartei eine Zukunft hat, ist offen.“ Eine Antwort darauf, kommt von Ex-Parteichefin Katja Kipping. „Unser Außenbild wurde stark durch Wortmeldungen einiger weniger bestimmt, die für Irritationen sorgten“, findet die Dresdnerin, die weiterhin im Bundestag sitzt. Die Wähler hätten „eine Durchsetzungsperspektive gesucht, die wir nicht bedienen konnten“. Deswegen müsse die Linke sich jetzt „neu erfinden“ – der Standardsatz nach Niederlagen.

Kann sie das? Im Westen ist sie zur Kleinpartei geschrumpft, östlich der Elbe hat sie ihre Rolle als Protestpartei an die AfD verloren. Mit Blick auf die in der neuen Fraktion sitzenden Genossen ist es zweifelhaft, daß das von Martin Schirdewan, Co-Vorsitzender der Linksfraktion im Europaparlament, geforderte „hegemoniale Zentrum“ um die Vorsitzenden Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow entstehen kann und interne Differenzen künftig nicht mehr kontrovers öffentlich ausgetragen werden. Dann würde die Linke nicht nur ein weiteres Markenzeichen verlieren, sondern ihre Existenz aus aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwinden. Kipping jedenfalls setzt auf die „kollektive Weisheit“ der geschrumpften Bundestagsfraktion, auf Effizienz und Einheit.