© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Süchtig nach schalem Ersatz
Pornographie als die Seelen-Seuche unserer Zeit: Filme von beziehungslosem Hardcore-Sex anonymer Darsteller kapern das Gehirn von immer mehr jungen Menschen. Doch es gibt eine Gegenbewegung
Björn Harms

Pornographie ist aus modernen Gesellschaften nicht mehr wegzudenken. Nur wenige hektische Mausklicks oder Fingerbewegungen auf dem Smartphone reichen aus, und die aktive Darstellung menschlicher Sexualität in Form von Bildern und Videos erscheint direkt auf dem Bildschirm. Im Grunde gibt es heutzutage kaum einen Jugendlichen, der gänzlich ohne den Konsum von Pornographie aufwächst. Und doch finden in der Öffentlichkeit kaum vertiefte Diskussionen über die Folgen dieser Form des Voyeurismus statt. Wohin aber führt uns eine „pornographische Gesellschaft“? Welche Auswirkungen hat sie?

Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz beschäftigt sich schon seit geraumer Zeit mit der Wechselwirkung zwischen Sexualität, Pornographie und Gesellschaft. „Aus meiner psychotherapeutischen Erfahrung ist Pornographie Segen und Fluch zugleich“, erläutert er im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. „Der Segen kann darin liegen, daß noch unerfahrene Menschen Informationen sammeln können, Anregungen finden, Phantasien aktiviert und Variationen sexueller Techniken gesehen werden. Gute Erfahrungen mit Selbstbefriedigung fördern Entspannung und damit Gesundheit und können zur Einübung partnerschaftlicher Lust hilfreich sein. Pornos sind eine gute Unterstützung für einsame Menschen. Und wenn eine partnerschaftliche Sexualität gerade nicht möglich ist.“

Doch die Schattenseite sei nicht weit, erklärt Maaz. „Der Übergang zum Fluch der Pornographie beginnt bei einer problematischen Motivation zum Gebrauch von Pornos.“ Für gehemmte und unsichere Menschen könne es „ein zweifelhafter Ersatz für nicht real gelebte Sexualität sein“, so der Psychoanalytiker. „Die ausbleibende beziehungsgetragene Befriedigung kann einen süchtigen virtuellen Gebrauch fördern.“ Mitunter würden „reifere Bedürfnisbefriedigungen oder Konfliktlösungen“ nicht gelernt und Hemmungen nicht überwunden werden.

Durch Pornokonsum kann die reale Sexualität empfindlich leiden

Dies kann vor allem für jüngere Menschen ernsthafte Konsequenzen haben. Das Datenmaterial zum durchschnittlichen Konsum der Heranwachsenden jedoch schwankt – von Studie zu Studie, von Land zu Land. In einer deutschen Studie („Jugend, Internet, Pornographie“) der Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt und Jens Vogelgesang von 2018 wurden Jugendliche im Alter zwischen 14 und 20 Jahren befragt, wie oft sie sexuelle Bilder und Filme nutzen. Während neun Prozent der jungen Männer einen täglichen Konsum angaben, waren es nur ein Prozent der Frauen. „Mehrmals pro Woche“ taten dies 22 Prozent der männlichen Jugendlichen, denen nur vier Prozent der weiblichen Befragten gegenüberstanden. 12 Prozent der Männer und 10 Prozent der Frauen antworteten mit „Einmal pro Woche“. Der Rest: „Einmal im Monat“, „seltener“ oder wie 22 Prozent der Frauen und elf Prozent der Männer „nie“.

In einer vor einem Monat in der internationalen Fachzeitschrift Journal of Sexual Medicine (Band 18, Heft 9) herausgekommenen schwedischen Studie liegen die Zahlen noch höher. Der Anteil junger Männer im Alter von 16 bis 24 Jahren, die sich „täglich oder fast täglich“ Pornos ansahen, lag demnach bei 17,2 Prozent. Fast jeder vierte gab an, „3 bis 5 mal die Woche“ derartige Videos zu sehen. „1 bis 2 mal die Woche“ konsumierten 23,7 Prozent dieser Altersklasse Pornographie. Das weibliche Geschlecht zeigte laut der Studie ein deutlich geringeres Interesse an den sexuellen Inhalten. Bei Frauen im Alter von 16 bis 24 Jahren lag der Anteil des Pornokonsums bei 1,2 Prozent („täglich oder fast täglich“), 3,1 Prozent („3 bis 5 mal in der Woche“) und 8,6 Prozent („1 bis 2 mal in der Woche“).

Die Studie befragte auch andere Altersgruppen und stellte kaum Verwunderliches fest: Mit höherem Alter nahm die Häufigkeit des Pornokonsums ab. Bei Männern im Alter von 65 bis 84 Jahren lag der Anteil nur noch bei 0,8 Prozent („täglich oder fast täglich“), 2 Prozent („3 bis 5 mal die Woche“) und 4,6 Prozent („1 bis 2 mal die Woche“). Auch bei den Frauen gingen die Zahlen mit dem Alter deutlich nach unten. 96,5 Prozent der Frauen im Alter von 65 bis 84 Jahren hatten noch nie in ihrem Leben Pornographie gesehen.

Doch welche Gefahren drohen eigentlich, wenn immer mehr junge Menschen dieser Form des digitalen Voyeurismus zuneigen? „Für unerfahrene, vor allem auch junge Menschen wird in Pornos zumeist eine Sexualität gezeigt, die falsche Vorstellungen über Abläufe, Stellungen und Techniken nährt, fern der Lebensrealität“, erklärt Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz gegenüber der JF. „Besonders negativ für den Pornokonsum ist der zumeist gezeigte beziehungslose Sex, ohne ein angemessenes Vor- und Nachspiel, überhaupt ohne das Beziehungsgeschehen darzustellen. So wird kein Verständnis dafür entwickelt, wie Kopf, Herz und Genitalien zusammenspielen. Das Einseitige, Wirklichkeitsferne, das Überzogene und nur technisch Orientierte übermittelt eine reduzierte und entseelte Sexualität, die eher Störungen und Fehlentwicklungen bedient als Hilfe für die Gestaltung realer Sexualität.“

Und die reale Sexualität kann auch an anderer, ganz empfindlicher Stelle leiden. Die Zahl der Männer mit Erektionsproblemen nimmt weltweit zu. Einen Grund hierfür sehen einige Wissenschaftler im gestiegenen Pornokonsum. Forscher aus England, Belgien und Dänemark publizierten im Juli dieses Jahres im Fachmagazin JMIR Public Health and Surveillance die Ergebnisse einer Befragung von 5.770 Männern im Alter zwischen 18 und 35 Jahren. Laut der repräsentativen Studie begannen ganze 85 Prozent von ihnen, bereits im Alter zwischen zehn und 14 Jahren Pornographie zu konsumieren. Mehr als 70 Prozent der Befragten masturbieren demnach mehrmals die Woche oder täglich. Das Schockierende: Die Autoren fanden nicht nur heraus, daß „die Häufigkeit von erektiler Dysfunktion bei jungen Männern alarmierend hoch ist“, sondern auch, daß „die Ergebnisse dieser Studie auf einen signifikanten Zusammenhang mit einem problematischen Pornokonsum deuten“.

Co-Autor Gunter De Wim von der Universität Antwerpen zeigt sich besorgt: „In unserer Umfrage waren nur 65 Prozent der Männer der Meinung, daß Sex mit einer Partnerin aufregender ist als das Ansehen von Pornos. Außerdem waren 20 Prozent der Meinung, daß sie extremere Pornos sehen müssen, um den gleichen Grad an Erregung zu erreichen wie früher. Wir glauben, daß die Probleme mit erektiler Dysfunktion im Zusammenhang mit Pornos auf diesen Mangel an Erregung zurückzuführen sind.“

Dieser Mangel an Erregung ist natürlich eng verbunden mit Sucht. Dutzende Untersuchungen haben bewiesen, daß der Konsum von Pornographie die Dopaminausschüttung in hohem Maße stimuliert. Genau wie Drogen oder Essen regen die erotischen Bilder den „Botenstoff des Glücks“ an, der Signale zwischen den Nervenzellen weiterleitet. Süchtige bekommen immer wieder das Verlangen, ihrer Sucht nachzugehen. Das Gehirn wird mehr oder weniger gekapert.

Wer Pornos konsumiert, neigt zu riskantem Sexualverhalten

Bei Männern mit höherem Pornokonsum reagieren die Gehirne mit der Zeit immer weniger und sensibilisieren sich. Sie benötigen neuartige und extremere Pornographie, um die Dopaminausschüttung anzuregen. Ein Phänomen, das in der Suchtliteratur allgemein als „Toleranz“ bezeichnet wird. Forscher des Max-Planck-Instituts untersuchten hierzu bereits 2014 die Gehirne von mehr als 60 Männern, während sie pornographische Bilder ansahen und befragten sie zu ihren Pornogewohnheiten. Sie fanden heraus, daß das Striatum, ein Teil des Gehirns, der für das Belohnungssystem zuständig ist, bei denjenigen, die viele Pornos sahen, kleiner war – was bedeutet, daß sie möglicherweise mehr graphisches Material benötigten, um erregt zu werden. Die Forscher konnten jedoch nicht feststellen, ob die Befragten mit einem kleineren Striatum dazu getrieben wurden, mehr Pornos zu schauen, oder ob ihr häufiges Pornokonsumieren das Striatum schrumpfen ließ – obwohl sie letzteres stark vermuten.

Doch führt vermehrter Pornokonsum auch zu mehr Gewalt im realen Leben, insbesondere sexueller Gewalt gegenüber Frauen? Neuere Studien widersprechen diesem Mythos. In der Fachzeitschrift Trauma, Violence & Abuse veröffentlichten die Psychologen Chris Ferguson und Richard Hartley im vergangenen Jahr eine Meta-Studie, in der sie rund 50 Studien verglichen, die in den vergangenen 40 Jahren den Zusammenhang zwischen Pornographie und sexueller Aggression untersucht hatten. Eine generelle Aggressionsbereitschaft, Gefühllosigkeit und kriminelle Energie bestimmten die sexuelle Aggression demnach deutlich stärker als der Konsum selbst härtester Pornographie.

Die Fachliteratur berichtet jedoch über andere, negative Auswirkungen wie eine verstärkte Beteiligung an „riskantem Sexualverhalten“, worin ein Grund für die wachsende Verbreitung von Geschlechtskrankheiten liegen könnte. Darunter zählen verschiedene Studien (Maddox 2011, Gwinn 2013, Wright 2013, Maas und Dewey 2018) zum Beispiel eine erhöhte Anzahl von Sexualpartnern, eine höhere sexuelle Freizügigkeit, außerehelichen Geschlechtsverkehr und die stärkere Bereitschaft zur Bezahlung von Sex.

Tatsächlich wuchs in den vergangenen Jahren auch unter jüngeren Männern ein Problembewußtsein für die wachsende Sucht nach Pornographie. Vor geraumer Zeit entstand aus einer Diskussion im Internet-Forum Reddit die sogenannte „NoFap“-Bewegung (englisch to fap = masturbieren), die Verzicht propagiert, um die Kontrolle über das Gehirn zurückzuerlangen. Sie bezieht sich insbesondere auf eine Studie mit 28 Probanden, wonach der Verzicht auf Masturbation den Testosteronspiegel in nur einer Woche um 145 Prozent ansteigen ließ. Die Wissenschaftler fanden aber auch heraus, daß der Spiegel des Männlichkeitshormons nach dem siebten Tag wieder absinkt und auf sein Ausgangsniveau zurückkehrt. Ob die Auswirkungen von „no fap“ auf den leistungsstärkenden Testosteronspiegel tatsächlich vorhanden sind, bleibt also umstritten. Dennoch erhoffen sich die Anhänger durch den Verzicht eine gesteigerte Libido, positive Effekte auf ihr Sexualleben und das allgemeine Wohlbefinden. Es geht also vor allem um psychische Aspekte.

Hilfe bei Pornographiesucht:

 www.safersurfing.org

 www.weisses-kreuz.de

 free-indeed.de

Foot: Gefangen vor dem Bildschirm in der Dopaminfalle: Fast ein Viertel der jungen Männer gibt in einer aktuellen Studie an, drei- bis fünfmal wöchentlich Pornofilme anzusehen