© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Die Stimmung ist aufgeladen
Italiens Migrantenkrise: Zuwanderer in Ventimiglia begegnen der JF mit Drohgebärden / Dritter Teil der Reportage
Hinrich Rohbohm

Sie kampieren in kleinen Gruppen am Strand, am Ufer des Flusses Roya, auf den Bahngleisen oder in den Bergen rund um Ventimiglia: Die italienische Küstenstadt hat sich im Lauf der Jahre zu einem Hotspot für Migranten entwickelt. Auch für jene Zuwanderer, die eigentlich nach Deutschland wollen. Um an ihr Ziel zu gelangen, nehmen sie den Umweg über Frankreich in Kauf. Es soll so einfacher sein, die grüne Grenze zu überqueren. Dabei kontrollieren die Beamten dort ebenso scharf wie an der italienisch-österreichischen Grenze am Brenner. Warum also Frankreich? 

Spricht man mit Migranten darüber, so fallen immer wieder drei Gründe: Zum einen sei die Überquerung des bergigen Geländes nicht ganz so gefährlich wie Richtung Österreich. Zum anderen seien die Temperaturen erträglicher, denn viele Zuwanderer hätten angesichts ihrer zumeist unpassenden Kleidung mit der Kälte zu kämpfen. Es fehle an Jacken, Pullovern und vor allem an geeignetem Schuhwerk. Der Hauptgrund aber dürfte ein anderer sein. 

Netzwerk selbsternannter Helfer versorgt Migranten mit Ausrüstung

In der italienisch-französischen Grenzregion zwischen Ventimiglia am Mittelmeer und dem davon 150 Kilometer nördlich gelegenen Bergdorf Bardonecchia hat sich ein Netzwerk selbsternannter italienischer als auch französischer „Aktivisten“ gebildet, das Migranten Unterkunft gewährt und sie mit Kleidung sowie weiterer in den Bergen nötiger Ausrüstung versorgt. In einem Park im Stadtkern von Ventimiglia beobachten wir solche vermeintlichen Helfer. Ein junger Mann, dem Aussehen nach Europäer, parkt dort seinen Wagen, steigt aus. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, Brille, Vollbart sowie lange, dunkle Rastalocken. Auch zwei Schwarzafrikaner steigen aus dem Fahrzeug. Einer der beiden telefoniert und spricht dabei in einer uns unverständlichen Sprache. Sie scheinen auf jemanden zu warten. Der andere der beiden läuft schließlich Richtung Park, in dem mehrere Migranten auf Bänken oder im Gras sitzen. Etwa zehn Minuten später kommt er mit einem weiteren schwarzafrikanischen Mann zurück. Sie fahren weiter Richtung Grenze. All das ist legal, problematisch wird es erst beim Grenzübertritt. Sollten selbsternannte Helfer Migranten hinüber nach Frankreich geleiten, steht der Verdacht der Beihilfe zum Schleusen im Raum.

In Ventimiglia gehen immer wieder Migranten vom Park in Richtung der Bahnschienen, über die eine Straßenbrücke führt. Auch unter der Brücke halten sich Zuwanderer auf. Aus irgendeiner Lautsprecherbox erklingt Musik. Einige Schwarzafrikaner tanzen dazu und trinken Alkohol. Plötzlich kippt die Stimmung. Der Grund dafür ist die JF – weil wir filmen und fotografieren. Die Zuwanderer begegnen uns mit Schreien und Drohgebärden. Erst fliegen Steine, dann Flaschen. Das Gebrüll wird lauter. Die Gruppe auf den Bahngleisen rastet regelrecht aus. Einige rennen los Richtung Straße. Wir ziehen uns zurück Richtung Bahnhof, wo mehrere bewaffnete Soldaten und Polizisten postiert sind, doch drei Schwarzafrikaner sind schneller. Sie schneiden uns den Weg ab. Wir flüchten in ein nahe gelegenes Café. Die Männer folgen uns und warten vor dem Eingang. Auch zwei Cappuccini später stehen sie noch auf der gegenüberliegenden Fahrbahn und beobachten das Café. Dann hält ein Lkw vor einer roten Ampel, der für einen Moment die Sicht auf den Eingangsbereich versperrt. Wir nutzen unsere Chance, das Café zu verlassen und die Männer abzuschütteln.

Zuwanderer springen von Brücken auf Eisenbahnwaggons

Im Juni dieses Jahres hatte Bürgermeister Gaetano Sullino Nachtpatrouillen für seine Stadt eingefordert. Es gebe dort zunehmend Probleme mit „gefährlichen oder betrunkenen“ Migranten. Auch  an andere Städte hatte er appelliert, sich seinem Hilferuf anzuschließen und der Gewalt von Migranten und gegen Migranten den Kampf anzusagen.  Das Asylcamp am Strand, an dem die JF bereits vor drei Jahren mit Steinen attackiert wurde, ist inzwischen Restaurants gewichen. Das entschärft die Lage dort zumindest tagsüber. Der Migrantenstrom nach Ventimiglia und in die nördlich gelegenen Seealpen hat sich jedoch verstärkt. „Bisher kamen überwiegend Afrikaner, jetzt nimmt auch die Migration aus Ländern wie Afghanistan, Iran oder Bangladesch stark zu“, erzählen Einheimische der JF. 

Immer wieder versuchen Zuwanderer, von Brücken auf Eisenbahnwaggons zu springen, um auf diese Weise den Grenzschützern zu entgehen. „Es kommt dadurch zu vielen Unfällen und auch zu Toten“, erfahren wir am Bahnhof. Stromschläge und Tunnel werden dort für so manchen Migranten zum Verhängnis. Warum sie diesen gefährlichen Weg wählen, wird beim Gang zu den Bahngleisen klar. Ein Großaufgebot an Polizei kontrolliert hier bereits stichprobenartig die Pässe potentieller illegaler Einwanderer. Trotzdem versuchen eine Vielzahl von ihnen diesen Weg zu bestreiten. So auch drei unbegleitete Minderjährige, mutmaßlich Afghanen. Wir folgen ihnen. 

Erfahren Sie mehr über den Weg der Migranten nach Frankreich in Teil 4 dieser Serie in der kommenden Ausgabe.

Foto: Migranten am Strand in Ventimiglia: Viele Zuwanderer wollen weiter nach Deutschland