© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Politischer Tourismus
Tschechien: Vor den Parlamentswahlen liefen einige Politiker zu anderen Parteien über / Kosten die „Pandora Papers“ Premier Babiš das Amt?
Paul Leonhard

Politischer Tourismus ist ein tschechisches Phänomen. So waren nach einer Analye des Nachrichtenportals irozhlas.cz 13 Prozent der Kandidaten für die Abgeordnetenhauswahl am zweiten Oktoberwochenende früher in anderen Parteien aktiv. Also knapp 600 von 5.258 haben mitten in der Legislatur die Fronten gewechselt. Das geschieht nicht nur, wenn sich Parteien zerstreiten, sondern auch wenn andere ihnen bessere Chancen auf ein erneutes Mandat oder gar einen Regierungsposten versprechen.

So konnte Mirek Topolánek (Bürgerdemokraten/ODS) 2007 seine Regierung nur dank zweier übergelaufener Sozialdemokraten (ČSSD) bilden. Auch die 2011 gegründete Partei Ano des derzeitigen Premiers Andrej Babiš war 2013 auf Überläufer angewiesen, erinnert Petr Hartman, politischer Kommentator beim Tschechischen Rundfunk (ČRo). In diesem Jahr ist das anders. Ano besitzt inzwischen genügend erfahrene Politiker in den eigenen Reihen, und in Umfragen lag die Regierungspartei mit 26 Prozent der Wählerstimmen an der Spitze. Doch die am Sonntag veröffentlichten „Pandora Papers“ über Briefkastenfirmen in Steueroasen enthalten auch Vorwürfe gegen den 67jährigen Regierungschef und Unternehmer.

Babiš habe 2009 für den Kauf von Immobilien an der französischen Riviera „eine Offshore-Firma mit Sitz auf den Britischen Jungferninseln genutzt“, erklärte Pavla Holcová, Gründerin des Journalistenportals Investigace.cz im ČRo. „Diese sind bekannt dafür, daß sie Unternehmern einen extrem hohen Grad an Anonymität gewähren. Zudem besorgte sich Babiš das Geld in Form eines Kredits. Das Problem dabei ist, daß noch vor Ablauf der Rückzahlfrist die involvierten Firmen wieder verschwunden waren“, so Holcová.

Babiš verwahrte sich gegen die so unterstellte Steuerhinterziehung: „Dieser tendenziöse Artikel kommt zwölf Jahre nach den Ereignissen und hat natürlich nichts mit der tschechischen Politik zu tun. Er soll aber das politische Geschehen in Tschechien beeinflussen.“ Doch schon die „Panama Papers“, die 2016 auch in Deutschland für mediale Aufregung sorgten und die linksliberale Aktivistin Holcová für die Tschechei auswertete, sorgten in Prag für keinen großen Skandal. Und das, obwohl sogar die milliardenschweren tschechischen Unternehmer und Investoren Petr Kellner und Daniel Křetínský darin zu finden waren.

Auch für den Ano-Koalitionspartner ČSSD sieht es nicht gut aus. Die Sozialdemokraten könnten – wie die Kommunisten (KDU-ČSL) – an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Zwar stärkt der ehemalige Grünen-Chef Matěj Stropnický nun die ČSSD, dafür sind viele Genossen zu eher rechten Gruppierungen abgewandert. Im Aufwärtstrend mit zwölf Prozent befindet sich daher die „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) von Tomio Okamura. In dieser Rechtspartei, die wie auch FPÖ oder Lega der ID-Fraktion im EU-Parlament angehört, sind drei der 14 Spitzenkandidaten in den Wahlkreisen Ex-Sozialdemokraten. Dazu kommen zwei ehemalige Ano-Vizechefs und Überläufer aus der Kleinpartei SPO von Präsident Miloš Zeman. Der 1972 in Tokio geborene Okamura gilt inzwischen als potentieller Ano-Ersatzkoalitionspartner.

Das macht die SPD für Überläufer mit Machtinstinkt so interessant. Außerdem trifft die Partei den Nerv vieler Tschechen, wenn sie Babiš vorwirft, einerseits mit Viktor Orbán über den Grenzschutz zu sprechen und andererseits dennoch Afghanen aufzunehmen Dem Gesundheitsministerium wird vorgeworfen, Zwangsimpfungen von Kindern zwischen fünf und elf Jahren vorzubereiten. Okamura verlangt eine Senkung der Energiepreise, kritisiert „EU-Zentralismus, Multikulturalismus, Genderismus und Öko-Raserei“.

Das EU-freundliche Bündnis „Spolu“ (Gemeinsam) aus ODS, Christdemokraten (KDU-ČSL) und Top 09 liegt mit Umfragewerten von 20 bis 23 Prozent stabil auf Platz zwei. Zusammen mit dem linksliberalen PaS-Bündnis aus Piraten (ČPS) und der Bürgermeisterpartei Stan könnten sie Babiš ablösen, worauf nicht nur in Brüssel und Berlin viele Politiker hoffen. Mit 15 bis 19 Prozent für PaS könnte eine EU-freundliche Regierungsmehrheit entstehen, denn alle Kleinparteien werden an der Fünf- bzw. Elf-Prozenthürde (für Dreierbündnisse) scheitern. Doch Präsident Zeman hält Wahlallianzen für „Betrug am Wähler“. Der Ex-ČSSD-Chef will daher nach der Wahl die stärkste Einzelpartei mit der Regierungsbildung beauftragen.