© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Globalisierte Mangelwirtschaft
Auto-Industrie: Fahrzeuge können trotz guter Nachfrage nicht ausgeliefert werden / Folgen der anhaltenden Chip-Engpässe
Paul Leonhard

Ein Ende der Mangelwirtschaft ist nicht absehbar. Diese Prognose stammt nicht aus Nordkorea oder dem sozialistischen Kuba, sondern aus den Konzernzentralen der Autokonzerne. Überall stehen Produktionsanlagen still, werden Leiharbeiter nach Hause geschickt, wird Kurzarbeit beantragt oder wie bei Mercedes-Benz auf Halde produziert. Selbst der Branchenperfektionist Toyota rechnet für das laufende Geschäftsjahr mit einem Produktionsrückgang um 300.000 auf nur noch neun Millionen Fahrzeuge.

Der Grund? Den Erfindern leistungsstarker und formschöner Fahrzeuge fehlen die kleinsten Bauteile, ohne die all ihre immer komplizierter gewordenen Autos nicht mehr rollen: die Elektronik-Chips. Die Versorgung mit diesen Zulieferteilen stockt schon seit Monaten. Und das Problem ist meist hausgemacht, beruht es doch auf einem ökonomischen Grundsatz: Angebot und Nachfrage. Als im Zuge der Corona-Krise die Autohersteller Halbleiterbestellungen stornierten, suchten sich die Chip-Firmen neue Kunden in der boomenden Welt der Mobilgeräte und Unterhaltungselektronik.

Als nach Eindämmung der Pandemie die Autobauer wieder anklopften, waren die Kapazitäten in der Halbleiterproduktion ausgeschöpft. Und da die Rendite stimmt, zeigen die Chip-Produzenten keine große Eile, mit VW, GM & Co. wieder ins Geschäft zu kommen. Dazu kommt, wie aktuell in Malaysia, daß Test- und Verpackungskapazitäten und Chemikalien knapp sind. Es sind nicht großstädtische Klimapaniker, die im Lastenrad ihr Heil suchen, die den Autokonzernen zusetzen, nein, sie kriegen ihre begehrten Fahrzeuge nicht vom Hof, weil diese nicht fertiggebaut werden können.

Dies zeigt die Tücken eines globalen Fertigungsprozesses auf, bei dem viele Schritte längst ausgelagert sind. Im Volkswagen-Stammwerk in Wolfsburg wurde vorige Woche nur an einer Montagelinie in einer Schicht gearbeitet. Mercedes in Bremen (12.500 Mitarbeiter) trennt sich von Hunderten von Leiharbeitern und schickt Teile der Stammbelegschaft in Kurzarbeit. In Köln hat Ford den Fiesta-Stopp bis Ende Oktober verlängert. Betroffen sind 5.000 Arbeitnehmer. Opel schließt sein Werk in Eisenach wegen Lieferengpässen bis Jahresende. Das gefragte Opel-SUV Grandland X wird vorübergehend im Peugeot-Werk in Sochaux produziert. Das bringt Ministerpräsident Bodo Ramelow auf die Palme. Der Thüringer Linke wirft der transatlantischen Opel-Mutter Stellantis (Chrysler, Citroën, Dodge, Fiat, Jeep, Maserati, Peugeot) vor, mit der Grandland-Verlagerung nach Frankreich ungeniert die deutsche Kurzarbeiterregelung auszunutzen, statt die vorhandenen Chips nach Eisenach zu liefern. Oder liegt es eher an den französischen Gewerkschaften, die viel mehr Biß zeigen als die regierungsfrommen DGB-Funktionäre?

VW-Einkaufschef Murat Aksel versucht derweil händeringend, „engere Partnerschaften“ mit der Elektronikbranche schließen. Man sei dabei, die Vertragsstrukturen mit der Chipindustrie zu überprüfen, heißt es von Konzernchef Herbert Diess: „Dann müssen wir uns wahrscheinlich direkter mit Halbleiterherstellern abstimmen und auch dort längerfristige Volumenzusagen eingehen.“ Auf diese Idee ist auch GM in Detroit gekommen, wo „direkte Beziehungen“ zu den Chipfirmen aufgebaut werden um fixe Abnahmegarantien zu erhalten.

Joe Biden und die Suche nach den verfügbaren Komponenten

Obwohl Druck bei Auftragsproduzenten wie TSMC, Samsung und Globalfoundries gemacht wird, sieht auch BMW-Chef Oliver Zipse keine schnelle Lösung. Auf der Münchner Automesse IAA sagte er, die Anspannung könnte zwölf Monate andauern. Allerdings existiert bei den Münchnern offenbar eine Truppe, die auf der Suche nach „kurzfristig verfügbaren Komponenten“ ist, um halbfertige Autos zügig fertigzustellen und vom Hof zu bekommen, wie eine Sprecherin sagte. Der Konzern rechnet damit, daß etwa 80.000 bis 100.000 Autos wegen der Chipknappheit nicht verkauft werden können.

Einen Umsatzverlust von 210 Milliarden Dollar prognostiziert die US-Beratungsgesellschaft Alix Partners den Autobauern in diesem Jahr. Das klingt derart düster, daß Joe Biden den Chip-Mangel bereits im April zur „Chefsache“ erklärt hat. Nun lud der US-Präsident Pat Gelsinger, Chef des Eletronik­riesen Intel, und Vertreter von Apple, Microsoft, Samsung, Micron oder TSMC sowie Autobauer wie BMW (dessen SUV-Werk in Spartanburg/South Carolina ist der größte US-Autoexporteur), GM, Ford und Stellantis zur Videokonferenz ein. Biden verlangte von den Firmen einen besseren Einblick in die gesamte Lieferkette, um künftige Produktionsunterbrechungen zu vermeiden.

Die kapitalistische Mangelwirtschaft hat aber auch Vorteile: Einige Premiumhersteller verdienen weiterhin prächtig. BMW beispielsweise kann so höhere Preise verlangen und Rabatte vermeiden – Audi oder Mercedes können schließlich auch nicht liefern. Die Münchener gehen von einer deutlichen Ertragssteigerung aus. Die operative Gewinnspanne liegt bei 9,5 bis 10,5 Prozent. Die Aktie legte prompt um zwei Prozent zu. Auch Autovermieter und Gebrauchtwagenhändler können zulangen – Bahn und Rad sind für viele keine Alternative.

Schwieriger sieht es für viele Zulieferer aus. Der französische Konzern Faurecia erwartet für 2021 einen Umsatzrückgang von einer Milliarde Euro, der kürzlich übernommene deutsche Automobilzulieferer Hella 400 Millionen Euro weniger an Erlösen. Die Bolta-Werke in Diepersdorf (Mittelfranken) mußten Ende September sogar Insolvenz anmelden, weil Autohersteller wegen fehlender Elektronikbauteile Spritzgußteile und Lackieraufträge stornierten. Auch spezialisiere Transportunternehmen sind betroffen. So beantragte die Scherm Logline Transport aus dem oberbayerischen Karlskron ein Schutzschirmverfahren. Die Firma transportierte bisher Teile für Audi & Co.

„When the Chips Are Down“: www.whitehouse.gov

Foto: Vernetzte Limousine: Durch fehlende Elektronikteile drohen weitere Werksschließungen und ein globaler Umsatzverlust von 210 Milliarden Dollar