© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Terror fällt nicht vom Himmel
Studie über die Verbindung religiöser Motivationen und religiöser Gewalt: Muslime spielen in einer anderen Liga als Christen und Juden
Josef Hämmerling

Terroristische Anschläge, vor allem von Einzelpersonen, werden meist mit einer psychischen Erkrankung des Täters begründet, selten aber mit religiösen Gründen. Oftmals kommt es dabei zu einem schwierigen Spagat zwischen beiden. So nach dem tödlichen Messerangriff am 25. Juni in der Würzburger Innenstadt, als ein somalischer Messerangreifer drei Frauen tötete und weitere Personen zum Teil lebensgefährlich verletzte. Schreckliche Szenen am 25. Juni in der Würzburger Innenstadt. 

Nach Angaben des Informationsradiosenders BR24 ist der Tatverdächtige „möglicherweise schuldunfähig“. Zudem sei er mittlerweile von der Untersuchungshaft in eine Psychiatrie verlegt worden. Die psychiatrische Begutachtung komme derzeit zu der Einschätzung, daß der Beschuldigte zur Tatzeit möglicherweise schuldunfähig gewesen sei, zitiert BR24 Angaben der Generalstaatsanwaltschaft und des LKA. Bis die abschließenden psychiatrischen Gutachten erstellt sind, werde es jedoch noch dauern.

Laut BR24 gibt es nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft München und des Landeskriminalamts keine Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund für die Tat. Propagandamaterial oder sonstige extremistische Inhalte seien nicht gefunden worden. Islamwissenschaftler arbeiten derzeit an einer Bewertung, ob und inwieweit religiöse Überzeugungen des Beschuldigten bei der Tat eine Rolle gespielt haben könnten. 

Psychologische Traumata werden gern ins Feld geführt

Das „Warum“ der Tat sei immer noch offen, so der bayerische  Sender. Für einen islamistischen Hintergrund sprächen laut LKA die von zwei Tatzeugen wahrgenommenen Ausrufe „Allahu Akbar“ („Gott ist am größten“) des Somaliers sowie dessen Hinweis auf den „Dschihad“ („Heiliger Krieg“) in einer Würzburger Klinik.

„Gewalt im Namen der Götter?“  Wenn es nach Ruud Koopmans und Eylem Kanol von der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) geht, haben viele Wissenschaftler Probleme damit. Viele stünden der Vorstellung, daß religiöse Motivationen eine kausale Rolle bei der Erklärung religiöser Gewalt spielen können, skeptisch gegenüber. Vielmehr verwiesen diese auf wirtschaftliche Mißstände, politische Marginalisierung oder psychologische Traumata als herausragende Determinanten. Dies, obwohl religiöse Extremisten immer wieder erklären, „daß sie sich aus religiösen Quellen haben inspirieren lassen und daß sie bei ihren Versuchen, Anhänger zu mobilisieren, häufig aus religiösen Schriften zitieren“, so die WZBler.

Koopmans und Kanol wollten dem Abhelfen und erstellten eine Studie, die nach ihrem Kenntnisstand die erste ist, die belastbare Aussagen über den Einfluß von gewaltlegitimierenden Schriftversen auf die Unterstützung von Gewalt erlaubt. Dazu befragten sie rund 8.000 christliche, muslimische und jüdische Personen in sieben Ländern in Europa, Nordamerika, dem Nahen Osten und Afrika. 

Tötung von „Glaubensfeinden“ scheidet die Religionen

Dabei wurde „untersucht, ob gewaltlegitimierende Schriftverse die Unterstützung für religiöse Gewalt tatsächlich steigern können. Die Ergebnisse zeigen, daß, wenn Personen mit ähnlichen gewaltlegitimierenden Zitaten aus der Bibel, Thora oder dem Koran konfrontiert werden, sie religiöse Gewalt signifikant stärker unterstützen. Die Zustimmung für religiöse Gewalt steigt am deutlichsten bei Personen mit einer fundamentalistisch geprägten Glaubensauffassung. Die Erkenntnis, daß gewaltverherrlichenden Schriftstellen eine bedeutsame Rolle bei der Gewaltunterstützung zukommt, sollte zu einem Umdenken in der Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit führen, in der religiöse Ursachen und Motivationen bisher unterbelichtet geblieben sind.“

Doch was ist genau religiös an religiös motivierter Gewalt? Koopmans und Kanol weisen darauf hin, der jüdische religiöse Extremist und Mörder des israelischen Premierministers Yitzhak Rabin, Yigal Amir, habe im Prozeß betont, von der biblischen Geschichte von Jael inspiriert worden zu sein, die den philistischen Kriegsherrn Sisera tötete. Amerikanische christliche Extremisten, die Abtreibungskliniken oder FBI-Gebäude angriffen, hätten sich häufig auf den Priester Phineas berufen, der tötete, um unmoralische Handlungen zu verhindern. Und in der „Dschihad-Erklärung an die Amerikaner, die das Land der zwei heiligen Stätten besetzen“, die im August 1996 von al-Qaida veröffentlicht wurde, habe Osama bin Laden zahlreiche Verse aus islamischen Schriften zitiert, darunter diese: „Und wenn die verbotenen Monate verflossen sind, dann tötet die Götzendiener, wo ihr sie trefft, und ergreift sie, und belagert sie, und lauert ihnen auf in jedem Hinterhalt.“ 

Um möglichst genaue Antworten zu erhalten, wiesen die beiden Forscher die Befragten nach dem Zufallsprinzip einer Experimental- und einer Kontrollgruppe zu. Die Befragten in der Experimentalgruppe wurden mit einem gewaltlegitimierenden Schriftzitat konfrontiert, das auf zwei ähnlichen Versen in der Bibel, dem Thora-Buch Deuteronomium und im Koran basiert. In der Kontrollgruppe wurden die Befragten dagegen nicht auf eine Schriftquelle hingewiesen. Sowohl in der Experimental- als in der Kontrollgruppe wurde dann gefragt: „Was denken Sie persönlich? Sollten Menschen, die in den Augen Gottes Unheil stiften und Böses tun, getötet werden?“ Die Antwortmöglichkeiten reichten auf einer Fünf-Punkte-Skala von „Stimme überhaupt nicht zu“ bis „Stimme voll zu“. Durch den Vergleich der Ergebnisse in den Experimental- und Kontrollgruppen konnte herausgefunden werden, ob der Verweis auf eine gewaltlegitimierende Schriftstelle die Unterstützung der Befragten für die Anwendung von religiöser Gewalt erhöht.

Die Ergebnisse sind eindeutig: Die größte Gefahr geht in den sieben befragten Ländern von islamistischen Gewalttätern aus. So unterstützten von ihnen in der Kontrollgruppe ohne Schriftzitat 29 Prozent die Tötung von Glaubensfeinden und in der Experimentalgruppe mit Schriftzitat sogar 47 Prozent. Bei den christlichen Befragten waren es neun beziehungsweise zwölf Prozent und bei den jüdischen sogar nur drei bzw. sieben Prozent. Nicht viel anders sieht es in Deutschland aus, wo allerdings nur Christen und Muslime in das Ergebnis einflossen und die Unterstützung für die Tötung von Glaubensfeinden insgesamt deutlich niedriger ausfiel. Während von den christlichen Befragten in der Kontrollgruppe ohne Schriftzitat sich lediglich zwei Prozent und in der Experimentalgruppe mit Schriftzitat nur drei Prozent hierfür aussprachen, waren es bei den Muslimen fünf beziehungsweise sechzehn Prozent und damit deutlich mehr.

Interessant ist auch, daß sowohl bei Christen als auch bei Juden und Muslimen die Unterstützung für religiöse Gewalt bei Personen mit einem hohen religiösen Wissen ausgeprägter ist als bei niedrigem religiösem Wissen. Auch hier war die Zustimmung bei Muslimen in der Gesamtheit am höchsten, gefolgt von Christen und Juden. 

Forscher fordern eine „Umkehr der Politik“

Noch höher war die Unterstützung für Gewalt bei fundamentalistischen gegenüber nicht-fundamentalistischen Gläubigen. In der Experimentalgruppe waren es bei den Muslimen sogar 62 Prozent, die Gewalt befürworteten, gegenüber 18 Prozent bei den Juden und Christen. 

Bei der Auswertung der Einzelergebnisse haben der Studie zufolge kenianische Muslime den höchsten Anteil an Fundamentalisten (80 Prozent), die deutschen Christen (9 Prozent) den niedrigsten. In jedem Land weisen Muslime höhere Fundamentalismuswerte auf als Christen und/oder Juden, mit Ausnahme des Libanon, wo der Anteil der Fundamentalisten unter den Christen etwas höher ist.

„Warum verweisen religiöse Extremisten so häufig auf die Heiligen Schriften ihrer Religion?“, fragen Koopmans und Kanol und geben die Antwort:  „Unsere experimentellen Ergebnisse zeigen, auf der Basis einer sehr breiten Datengrundlage, daß dies eine wirksame Strategie ist, da solche Verweise sehr gut geeignet sind, um in der Gemeinschaft der Gläubigen Unterstützung für religiöse Gewalt zu mobilisieren. Diesen Effekt finden wir unter Juden, Christen und Muslimen, aber ist unter letzteren besonders stark ausgeprägt.“

Warum ist dies der Fall? „Ein wichtiger Teil der Antwort ist, daß es eine starke Verbindung zwischen religiösem Fundamentalismus und Gewaltunterstützung gibt. Die stärkere Verbreitung fundamentalistischer Glaubensauffassungen unter Muslimen ist deshalb eine wichtige Erklärung für die durchschnittlich höhere Unterstützung religiöser Gewalt unter Muslimen und ihre größere Anfälligkeit für Gewaltaufrufe, die sich auf Schriftquellen beziehen“, erklären beide und forden eine Umkehr in der Politik.  

„Extremistische religiöse Bewegungen können nicht wirksam bekämpft werden, wenn ihre religiösen Wurzeln und die motivierende Kraft gewaltlegitimierender Schriftquellen nicht ernst genommen werden. Die Scheu, sich mit dem Religiösen im religiösen Extremismus auseinanderzusetzen, lenkt von der Notwendigkeit ab, auch religiöse Antworten auf das Phänomen zu finden.“ Dringend notwendig sei ein „pro-aktiver, öffentlich mobilisierter Gegendiskurs gegen fundamentalistische Glaubensinterpretationen, um die „Mobilisierungskraft religiöser Extremisten wirksam zu brechen“. Dies werde jedoch nur gelingen, wenn „Moscheen und Imame buchstabengetreuen Schriftverständnissen explizit entgegentreten und sich für historisch-interpretative Auslegungen stark“ machten.

Foto: Gedenken an die Opfer der Messerattacke in Würzburg Ende Juni: Der somalische Verdächtige ist in psychologischer Behandlung