© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Ein Schwarm von Ideen
Jenseits der Parteienlogik: Eine Konferenz konservativer Publizisten und Politiker zog ein kritisches Resümee der Bundestagswahl
Florian Werner

Stellt euch vor“, begrüßte der Kabarettist Ludger K. das Publikum spitzbübisch lächelnd, „gestern bin ich an einer Arztpraxis vorbeigelaufen, die ihre Patienten allen Ernstes dazu auffordert, nur dann einzutreten, wenn man keine Krankheitssymptome zeigt. Wie verrückt ist das denn!?“ Mit weiteren treffenden Kalauern stimmte Ludger Kusenberg alias Ludger K. die über 350 Teilnehmer der sechsten „Vollversammlung der wahren Schwarmintelligenz“ am frühen Samstag in Essen auf ernste Themen ein. Unter dem Motto „Upside down – Inside out“ machte sich der Komiker über eine Welt lustig, die zwar voller Widersprüche stecke, in der es aber kaum noch Widerspruch gibt. Widerspruch, der bei diesem Treffen jedoch deutlich formuliert werden sollte.

Mit der Frage „Wohin treibt Deutschland nach der Wahl?“ gab Gastgeber Klaus Kelle der Veranstaltung das Leitmotiv. Deutschland brauche eine Lobby für Markwirtschaft, Demokratie und Meinungsfreiheit, sagte der Medienunternehmer und Publizist (TheGermanz) am Samstag vormittag.

Arnold Vaatz fordert Neubesinnung der Union in der Opposition

Den Auftakt gab der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz, der die Unionsparteien und die Ära Merkel einer scharfen Kritik unterzog. „Wenn sich nichts Wesentliches in unserer Partei ändert, dann ist auch bei dem derzeitigen Wahlergebnis der CDU noch sehr viel Luft nach unten.“ Er gehe davon aus, daß es für die CDU am besten sei, die Wahlniederlage anzuerkennen und sich in der Opposition neu zu erfinden. Sie solle nicht die allerletzten Reste der eigenen Parteiprogrammatik für einen sich darbietenden Regierungsauftrag opfern. Deutschland stehe von der Inflation bis hin zur Migration vor vielen grundsätzlichen Krisen. Die Union solle diese in Zukunft endlich deutlich artikulieren, anstatt sie weiterhin auszublenden. Die Erosion der EU, die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und die völlig verfehlte Energiepolitik seien Herausforderungen, an denen die Bundesregierung unter Angela Merkel gescheitert sei. Deutschland müsse in den kommenden Jahren aus all diesen Krisen wieder herausgeführt werden. Für diese Generalabrechnung mit seiner eigenen Partei erntete Vaatz viel Applaus der Zuhörer, unter denen Mitglieder und Politiker der CDU/CSU, FDP, AfD – und von diesen Parteien Enttäuschte nebeneinandersaßen. 

Der frühere FDP-Fraktionschef und Vizelandtagspräsident von NRW, Gerhard Papke, schloß sich Vaatz’ Kritik der verfehlten Migrationspolitik der Regierung Merkel an. Papke, heute Vorsitzende der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft, zog in seiner Rede eine kritische Bilanz der Beziehungen zwischen Berlin und Budapest. „Es gibt wohl wenige Länder, denen Deutschland so viel zu verdanken wie Ungarn. Es gibt aber auch wenige Länder, die Deutschland so unfair behandelt wie Ungarn.“ Wie kaum ein anderes Land habe Ungarn historische Verdienste um die deutsche Einheit. Der FDP-Politiker kritisierte die deutsche Berichterstattung über das im vergangenen Sommer in Ungarn beschlossene Gesetz zum Schutz kleiner Kinder vor sexuellen Inhalten. „Wenn die Eltern in Deutschland wüßten, was an den Schulen hierzulande unterrichtet wird, dann würden sie sich für ein ähnliches Gesetz im Deutschen Bundestag einsetzen.“ Trotz der Negativkampagnen sehe man Deutschland in Ungarn aber weiterhin positiv. Man könne froh sein, solche Freunde an seiner Seite zu haben, schloß Papke seine Rede. Papkes Ausführungen unterstrichen die Kritik, die der in Warschau lehrende belgische Philosoph David Engels an der zentralistischen Konstruktion der EU geübt hatte. Engels forderte ein föderales, an abendländischen Traditionen orientiertes „Sacrum Imperium“, warnte jedoch andererseits vor einem illusionären Rückfall eines in reine Nationalstaaten zersplitterten Europas.

Eine besorgniserregende Bilanz der deutschen Sicherheitspolitik zog der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Gerhard Schindler. In seinem Redebeitrag forderte er eine grundlegende Reform der deutschen Behördenstruktur, die mit Aufklärung, Spionageabwehr und Terrorbekämpfung zu tun haben. „Nötig ist eine Gesamtrevision der deutschen Sicherheitsarchitektur, die es in der Form bis dahin nicht gegeben hat.“ Um Bedrohungen durch Cyberattacken, internationalen Terrorismus oder durch Konkurrenz aus China, Indien und Rußland begegnen zu können, müße man sich auf eine Diskussion über deutsche Sicherheitsinteressen einlassen. „Was sind unsere ganz konkreten Interessen, wenn wir Missionen im Ausland genehmigen? Dies zu formulieren fällt uns offensichtlich schwer.“ Insbesondere der Abzug aus Afghanistan zeige dieses Dilemma auf. Wenn man keinen überzeugenden Grund habe, um in ein Land einzumarschieren, dann habe man auch keinen, es wieder zu verlassen. „Es ist traurig genug, daß dafür über 50 Soldaten gefallen sind. Die Sicherheit Deutschlands jedenfalls wurde am Hindukusch nicht verteidigt.“ Er hoffe, daß die neue Bundesregierung eine solche Diskussion in Deutschland anstoßen werde.

Wie Konservative im Diskurs anschlußfähig werden können 

Der Bestsellerautor Thilo Sarrazin bekannte in seiner Rede, warum er ursprünglich eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen habe und nicht den Weg in die Politik über ein Abgeordnetenmandat angestrebt habe. Er habe früh sehen müssen, wie stark sich Abgeordnete Opportunitätszwängen unterwerfen und Grundüberzeugungen hätten aufgeben müssen. Als leitender Beamter in einem Ministerium verfüge man demgegenüber praktisch über viel mehr Macht. Anhand des Bundestagswahlprogramms von 2005 führte Sarrazin vor, wie die CDU unter Merkel auf den wichtigsten Politikfeldern (Einwanderung, Euro, Staatsfinanzen, Energiepolitik) faktisch das Gegenteil dessen umgesetzt habe, was sie einst versprochen hatte.

Der ehemalige SPD-Umweltsenator von Hamburg und RWE-Manager Fritz Vahrenholt zog eine vernichtende Bilanz der Energiewende: Mit erneuerbaren Energieträgern sei das Industrieland Deutschland nicht sicher zu versorgen, es stünde nun eine Explosion der Kosten und damit eine Abwanderung von energieintensiven Unternehmen ins Haus. Wie schon Ex-BND-Chef Schindler in seinem nüchternen Vortrag konfrontierte jedoch auch Vahrenholt die Zuhörer mit unbequemen Wahrheiten. Als Zuhörer die These vertraten, CO2 habe überhaupt nichts mit Klimaerwärmung zu tun, erwiderte Vahrenholt mit ausdrücklichem Blick auf die AfD: Wer sich nicht endgültig einem ernstzunehmendem Diskurs entziehen und stattdessen anschlußfähig sein wolle, müsse anerkennen, daß dieser Einfluß nicht zu leugnen sei. Strittig sei jedoch die Größenordnung, die der Faktor des von Menschen verursachten CO2 ausmache. Und man müsse über die geeigneten Gegenmaßnahmen klug streiten: Ob es eine Rückkehr zur Kernenergie oder der Einsatz der CCS-Technologie, das Abscheiden und Verpressen von Kohlendioxid bei Kohle- und Gaskraftwerken in der Erde sei.

Immer wieder prallten bei den Plenumsdebatten und lebhaften Flurgesprächen konservative Luftschlösser auf realpolitische Nüchternheit. Der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, meinte in seinem Beitrag, es werde Zeit, daß die Deutschen ihren „Untertanengeist“ überwänden, deren Ausdruck auch das Ergebnis der Bundestagswahl gewesen sei. Da sowohl die Union als auch die AfD eine Lücke ließen, plädiert er für eine neue politische Formation. Anwesende AfD-Aussteiger, die mit der Abspaltung „Liberal-Konservative Reformer“ (LKR) bei der Bundestagswahl mit 0,0 Prozent untergegangen waren, waren indes lebhaftes Beispiel für das Spannungsfeld zwischen Wünschen und Wirklichkeit – weshalb sich auch die Begeisterung für neue Parteigründungsideen in äußerst engen Grenzen halten dürfte. 

Dem Appell nach Vernetzung und Brückenschlägen zwischen konservativen Lagern unterstrich indirekt auch der letzte Vortrag des Paartherapeuten Raphael Bonelli, der Partnern empfiehlt, sich nicht überstürzt zu trennen, sondern auch wieder im Eros von Gegensetzen und Unterschieden einen Wert zu entdecken, den es mit Agape zu hegen gilt.

Für die nächste „Vollversammlung der wahren Schwarmintelligenz“ plant der rührige Initiator und diskussionsfreudige Gastgeber Klaus Kelle für das kommende Jahr einen Fokus auf außenpolitische Fragen. „Am liebsten würde ich einen Russen, einen Amerikaner und einen Ukrainer auf dem Podium plazieren und schauen, was dann bei der Diskussion herauskommt.“ Mit dem gemeinsamen Singen des Deutschlandliedes endete am Sonntag mittag eine Konferenz, deren Teilnehmer nach coronabedingter monatelanger Abwesenheit von Begegnungen dieser Art solche Veranstaltungen neu zu schätzen wissen. 

Weitere Informationen zur Schwarmintelligenz: https://denken-erwuenscht.com

Foto: Voller Saal bei der „Schwarmintelligenz“: Wenn Luftschlösser auf Realpolitik treffen