© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

„Ich mache Tiere, weil es mich freut“
Bildhauerei: Zum 100. Todestag August Gauls, des „allerersten Meisters“ der modernen Tierplastik
Oliver Busch

So zynisch es im Rückblick auf die Opfer der Corona-Pandemie klingen mag, aber die „Macherinnen“ der August-Gaul-Ausstellung des Berner Kunstmuseums treffen den Nagel auf den Kopf, wenn sie feststellen, die Seuche habe der globalen Gesellschaft die Nähe von Mensch und Tier vor Augen geführt. Ausgehend von der „vermutlich“ ersten Tier-Mensch-Übertragung des Coronavirus auf dem Wildtiermarkt in Wuhan, schlagen Nina Zimmer und K. Lee Chichester im Vorwort ihres prächtig ausgestatteten Ausstellungskatalogs den Bogen zu Klimawandel, Artensterben, industrieller Landwirtschaft, artgerechter Tierhaltung, dem Disput über Tierrechte, dem Tierleiden in Zoos und Zirkusarenen. 

Wenn derart die Grenzen des Wachstums sichtbar würden, habe es zwangsläufig zur gegenwärtig mitunter so schmerzlich erlebbaren „Aktualität des Tieres“ kommen müssen. Und damit auch zur neuen Aktualität des am 18. Oktober 1921 mit nur 51 Jahren verstorbenen Tierbildhauers August Gaul. Die von dem „allerersten Meister“ in seinem Metier geschaffenen Plastiken waren im öffentlichen Raum vieler deutscher Städte präsent, zierten die Villen und Gärten der wichtigsten wilhelminischen Kunstmäzene, fehlen bis heute in keinem der großen Museen.

Jagd- und Kampfszenen fehlen fast ganz in seinem Werk

Trotzdem stand und steht der als bloßer „Kunsthandwerker“ wahrgenommene Steinmetz-Sohn aus dem hessischen Hanau im Schatten der weltberühmten Impressionisten Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt. Mit ihnen und den politisch zupackenderen Kollegen Käthe Kollwitz, Ernst Barlach und Heinrich Zille zusammen war der „denkende Künstler“ Gaul in der Berliner „Secession“ um 1900 angetreten, um gegen die von Wilhelm II. protegierte „nationale Kunst“ die internationale Moderne durchzusetzen. 

Für Gaul hieß das, Tiere der üblichen patriotischen Vereinnahmung und der identitätsstiftenden „Naturkunde des Vaterlandes“ zu entziehen. Ganz zu schweigen davon, daß seine Tiere keine „kolonialen Botschaften“ nach dem Muster Fritz Behns und Wilhelm Kuhnerts vermittelten. Daher gibt es bei Gaul keine „majestätischen“ Adler und Löwen, sondern überhaupt keine furchterregenden ausgewachsenen Löwen, allenfalls den „Sitzenden jungen Löwen“ (1898) oder jene „Große stehende Löwin“, die ihm 1900 den Durchbruch brachte als „bester deutscher Plastiker, der nicht einmal im Auslande einen ebenbürtigen Rivalen hat“.

Gauls Modernität lag in seinem Credo: „Ich mache Tiere, weil es mich freut“, also nicht um symbolpolitische Erwartungen zu erfüllen. Jagd- und Kampfszenen fehlen daher fast ganz in seinem Werk. Es reizt ihn nicht, den seit Darwin zum politischen Schlagwort gewordenen „Kampf ums Dasein“, die brutale tierische Realität des Fressens und Gefressenwerdens, darzustellen. Die mannshohe Skulptur „Kämpfende Wisente“, im Volksmund „Staatsanwalt und Verteidiger“ genannt, 1912 vor dem Portal des Land- und Amtsgerichts in Königsberg plaziert und im heutigen Kaliningrad dort immer noch zu betrachten, ist schon das seltene und äußerste Zugeständnis an diesen Zeitgeschmack. 

Stattdessen wollen Gauls Plastiken, deren Vorbilder ihm überwiegend im Berliner Zoo „Modell saßen“, Tiere „an sich“, um ihrer selbst willen, in ihrer autonomen Existenz zeigen. Was die abstrahierende Reduktion auf das Typische, auf die vielfach bewunderte und wegweisende  „Archaik“ seiner Kunst bedingt. Diese entfaltet gerade jenseits monumentaler Formate in der von August Gaul bevorzugten Kleinplastik wie dem den Garten von Max Liebermanns Wannsee-Villa schmückenden Fischotter, den der Maler 1909 seiner Frau Martha zu Weihnachten schenkte, dem jungen Bären (1909) oder dem Tapir (1915) ihre einzigartige Faszinationskraft.

Katharina Lee Chichester/Nina Zimmer (Hrsg.): August Gaul – Moderne Tiere. Katalog der Ausstellung im Kunstmuseum Bern vom 4. Juni bis 24. Oktober 2021, Hirmer Verlag, München 2021, broschiert, 200 Seiten, 100 Farbabbildungen, 29,90 Euro

Foto: Fischotter-Skulptur von August Gaul: 1909 für seinen Malerfreund Max Liebermann für dessen Sommerhaus am Berliner Wannsee gestaltet