© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Für das Erhabene streiten
Ein unzeitgemäßer Geist: Zum 125. Todestag des österreichischen Komponisten Anton Bruckner
Eberhard Straub

So componieren bei uns die Bauern, jetzt könnt’s Euch vorstellen, wie die andern erst san!“ Das meinte, wie Richard Strauss berichtet, der erste Hornist der Wiener Philharmoniker nach einer von dem mittlerweile weltberühmten Komponisten geleiteten Aufführung der 7. Sinfonie Anton Bruckners 1923 in Buenos Aires. Dieser war damals – am 11. Oktober 1896, vor 125 Jahren gestorben – außerhalb Mitteleuropas immer noch weitgehend unbekannt. Aber auch viele Deutsche und vor allem Wiener hatten Schwierigkeiten mit diesem Meister, dem sie nur zögernd die Ehre eines wahrhaft Großen  zugestehen wollten. Seine Eigenwilligkeiten, die sie nicht verstanden oder gar nicht verstehen wollten, führten sie auf Bruckners Unverstand zurück, sich geläufig und formgerecht ausdrücken zu können. Seine musikalische Sprache wurde bestenfalls als Dialekt aufgefaßt, ganz passend für einen Mann, der überhaupt nicht darauf achtete, in Kleidung und Auftreten den Forderungen nach liebenswürdiger Urbanität zu genügen oder mit genialischen Verspieltheiten dem bürgerlichen Bild vom „Künstler“ zu entsprechen.

Anton Bruckner, 1824 geboren, war bis 1868 in Oberösterreich – in St. Florian und Linz – als Lehrer und Organist tätig. Immerhin wurde er in dieser Zeit zu einem der besten Organisten, der später auch in Paris und London Aufsehen erregte. Fernab der großen Welt machte er sich mit Hector  Berlioz, Franz Liszt und Richard Wagner vertraut. Seit 1855 stand er in reger Beziehung zu Simon Sechter in Wien, der anerkannten Autorität für Kontrapunkt, Musiktheorie und Musikgeschichte.

Bruckner erwarb sich auch als Chordirigent einen Namen. Kurzum, er entwickelte sich umsichtig und beharrlich, als Talent wegen seiner kirchlichen Werke durchaus beachtet. 1865 war er in München bei der Premiere von „Tristan und Isolde“. Dieses Erlebnis überwältigte ihn, machte ihn aber nicht mutlos. Ganz im Gegenteil, es gab ihm Kraft und Sicherheit, von nun an als Symphoniker musikalische Dramen zu schaffen und eigene Wege zu gehen. 1868 wird Anton Bruckner zum Professor für Musiktheorie und Orgel am Wiener Konservatorium ernannt, seit 1875 unterrichte er auch an der Universiät. Es war deshalb töricht, ihn als naiven, ahnungslosen Bauern zu verunglimpfen.

Öffentlich bekundete Bewunderung für Richard Wagner

Der Widerstand gegen ihn ergab sich aus seiner öffentlich bekundeten Bewunderung für Richard Wagner, in dem der Wiener Kritiker und musik-ästhetischer Theoretiker Eduard Hanslick den Verderber deutscher Musik, wie sie sich in der Tradition der „klassischen“ Wiener Schule entwickelt hatte, erkennen wollte. So geriet Bruckner unweigerlich in die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Zukunftsmusik Wagners und einer erhofften musikalischen Zukunft möglichst unabhängig vom schädlichen Einfluß der neuen deutschen Schule, der Bruckner umstandslos zugeordnet wurde. Um seine innere Ruhe war es damit getan. Ihm fehlte jede kämpferische Leidenschaft. Seine Nerven waren dafür zu schwach. Aber er fügte sich auch nicht wie manch andere Österreicher – von Franz Grillparzer über Adalbert Stifter bis zu Ferdinand von Saar – in die Resignation. Zuweilen irritiert und verstimmt, wie die drei Dichter, wich er nicht von dem Weg, den er eingeschlagen hatte.

Im Sinne Goethes gehorchte er seinem Dämon, seinem Kunstwollen, das gar nicht ahnungslos und naiv war, also bäurisch. Ein Vorwurf, der im übrigen gegen Richard Wagner oder Franz Liszt, die allzu bewußten Künstler und deshalb Kunstzerstörer, nie erhoben wurde. Doch ausgerechnet der Bauer Anton Bruckner lehrte Theorie und zog intellektuelle Musiker der jungen Generation wie Hugo Wolf, Gustav Mahler, Franz Schmidt in seinen Bann. Der junge Richard Strauss hielt ihn für einen „stammelnden Zyklopen“. Das ist nicht unbedingt abschätzig gemeint, weil die klassischen Griechen unter dem Eindruck mächtiger Ruinen aus ihrer früharchaischen Zeit in deren mythisch verklärten Baumeistern übermenschliche Titanen und Zyklopen vermuteten. Die umstrittenen Sinfonien Bruckners forderten ein liberales Publikum heraus, das sich – gut bürgerlich – auf das Bewährte und Gediegene, auf das Vernünftige, verlassen wollte und jedem mißtraute, der sich temperamentvoll und unberechenbar von der alles ausgleichenden und relativierenden Mitte und ihrer Mittelmäßigkeit entfernte.

Bruckners Sinfonien sind klassische Dramen

Anton Bruckner wirkte deshalb fast wie ein Revolutionär und Umstürzler, obgleich ein gläubiges Mitglied seiner Römischen Kirche, in der Liberale allerdings ein Relikt des finsteren Mittelalters und des Aberglaubens bekämpften. Bauer, Katholik, Einfaltspinsel und reaktionäre Lärmtrompete waren freilich nur hilflose Schlagworte, sich dieses offenbar gefährlichen Elementes zu erwehren, der die Ordnung durcheinanderbrachte. Denn dieser unruhige Geist oder Ungeist, dieser unbegreifliche Künstler oder Stümper, erinnerte an ganz unbürgerliche, unzeitgemäße, sehr klassische Tugenden, die seit der griechischen Antike mit der Kunst und gerade mit der Musik verbunden waren: an Pathos und Thymos. Das Pathos hat es mit allen Mächten zu tun, die das Gemüt und die Leidenschaften ergreifen, bewegen, erschüttern, und die von denen gesucht werden, die über Thymos verfügen, über Lebenskraft voller Willen und entschlossener Freude, für alles Große und Erhabene zu streiten.

Bruckner besaß Thymos und hatte deshalb keine Furcht vor dem Pathos. Seine Sinfonien sind in diesem Sinne klassische Dramen, die mit den Mitteln der Dramatik Spannung und Beruhigung herstellen: mit Beschleunigung und Verzögerung, dem raschen Wechsel kräftiger Kontraste und ausdrucksvollen Schweigens, mit Vorgriffen und Rückbesinnung, um auf unerwartete Umschwünge vorzubereiten und auf die monumentale Steigerung des von allen Gegensätzlichkeiten befreienden Endes in einer harmonischen Ordnung. Bruckners Sinfonien sind „absolute Musik“. Sie haben nichts mit Programmen und außermusikalischen Ideen zu tun. Sie sind auch nicht musikalische Dome oder Kathedralen, wie Apologeten Bruckners immer noch feierlich behaupten. Anton Bruckner ist kein gotischer Christ in glaubensferner Zeit, er ist auch kein barocker Katholik, der „das ewige Österreich“ beschwört, er ist ein Künstler, ein Musiker, ganz auf der Höhe seiner Zeit.

Sonst hätte er sich gar nicht auf Richard Wagner einlassen können, der die damalige Modernität Europas repräsentierte, unbedingt im Gegensatz zur Römischen Kirche. Bruckner ist ein moderner Komponist im Sinne der damaligen Moderne, ein sehr bewußter, ja intellektueller; ihn beschäftigen musikalische Fragen, aber keine geisteswissenschaftlichen, solange er komponiert. Das machte ihn zu einem Unzeitgemäßen unter seinen Zeitgenossen, die sich, literarisch gebildet wie sie waren, immer etwas vorstellen wollten, um zu ahnen, was sie hören sollten, und zu begreifen, welche Inhalte Musik ihnen nahebringen könnte.

Er folgte konsequent nur seinem musikalischen Gewissen

Bei der Komposition von Messen war die Musik allerdings eine Hilfe, die Worte einer heiligen Handlung, des Dramas, das sich am Altar ereignete, zu deuten, ohne ihr Geheimnis zu verletzen. Anton Bruckner stand als Kirchenmusiker noch in einer ganz lebendigen Tradition, bis zurück zu Palestrina und zum gregorianischen Choral. Diese war ihm noch nicht historisch geworden, wie vielen anderen, die im Christentum und der Kirche ein ehrwürdiges Überbleibsel der Vergangenheit würdigten, das beliebig ästhesiert werden konnte. Dennoch sind seine Messen anspruchsvolle Kunstwerke, die besser in den Konzertsaal passen als in den Kirchenraum.

Anton Bruckner wird unweigerlich während der auch in Österreich zunehmend aggressiven Kulturkampfstimmung die theologischen und kulturellen Bemühungen um eine umfassende katholische Erneuerung beobachtet haben. Seine Musik im Dienst der Kirche blieb davon unberührt. Die Kirche und ihre Lehre faßte er nicht als ein Problem auf. Inwieweit die Musik über das zuweilen unzureichende Wort hinausreicht und Geheimnisse offenbart, von der nur sie zu reden vermag, das ist eine Frage für Theologen. Denn in der himmlischen, ewigen Seligkeit wird dauernd musiziert und gesungen, aber nicht gesprochen und debattiert, obschon es doch heißt, im Anfang war das Wort und Gott ist das Wort. Der Musiker ist kein Theologe, aber er kündet vom Glanz der Wahrheit und Schönheit. Gott und die Schönheit sind ein und dasselbe. Daran hielt der musikalische Künstler fest, der Anton Bruckner immer war und blieb, ohne je den Ehrgeiz zu verspüren, als Prediger oder Kulturphilosoph aufzufallen.

Seinen ersten großen Triumph erlebte er 1884 mit der ersten Aufführung der 7. Sinfonie im kulturprotestantischen Leipzig unter Arthur Nikisch. Aber dieser Erfolg besänftigte nicht die Zweifel auch seiner Freunde an diesem merkwürdigen Einzelgänger, der es ihnen gar nicht leicht machte, sich für ihn einzusetzen. Bruckner ließ sich auf Ratschläge ein und griff immer wieder ändernd in seine Werke ein, folgte aber konsequent nur seinem musikalischen Gewissen. Er war ein zäher Arbeiter nicht aus Unverstand, sondern aus schöpferischer Unruhe, sich nicht allzu rasch zufriedenzugeben bei der Suche nach dem vollkommenen Ausdruck.

„Der Künstler will zur Welt durch ein Ganzes sprechen“, meinte Johann Wolfgang Goethe einmal im Gespräch mit Eckermann 1827. „Dieses Ganze aber findet er nicht in der Natur, sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes oder, wenn Sie so wollen, das Anwehen eines befruchtenden göttlichen Odems.“ Das erfordert Geduld und Ungeduld zugleich und verführt eine rasch urteilende Umwelt dazu, gerade sehr gewissenhafte Künstler wie Anton Bruckner als unbeholfen und unentschlossen einzuschätzen.

Foto: Anton Bruckner (r.) und Richard Wagner schnupfend, Karikatur in Scherenschnittmanier von Otto Böhler: Ein liberales Publikum herausgefordert