© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Sinnstiftung mit pazifistischer Motivation
Vor vierzig Jahren mobilisierte die Friedensbewegung Hunderttausende, die im Bonner Hofgarten gegen den Nato-Doppelbeschluß demonstrierten
Karlheinz Weißmann

Für viele Zeitgenossen war das Ende der 1970er Jahre atmosphärisch bestimmt durch das Gefühl, daß der Sozialismus als letzter Versuch umfassender „Sinnstiftung“ (Antje Vollmer) gescheitert sei. Aber an die Stelle der Sinnstiftung im Großen traten Sinnstiftungen im Kleinen. Zu denen gehörte der Pazifismus, der damals Massen in Bewegung setzen konnte.

Unübersehbar wurde das bei der Großdemonstration am 10. Oktober 1981, als im Bonner Hofgarten nach einem Sternmarsch mehr als 300.000 Menschen zusammenkamen und gegen die sogenannte „Nato-Nachrüstung“ protestierten. Die Initiative zu der Veranstaltung war von christlichen Gruppierungen ausgegangen. Während des 19. Evangelischen Kirchentags im Juni des Jahres in Hamburg hatten die Aktion Sühnezeichen / Friedensdienste und die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden zusammen mit zwei niederländischen Verbänden, dem Interkirchlichen Friedensrat und dem Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit einen Aufruf verfaßt. Zu dessen zentralen Forderungen gehörte, die Aufstellung amerikanischer Mittelstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen zu verhindern und eine atomwaffenfreie Zone in Europa zu schaffen. 

Am Rande des Kirchentags kam es schon zu einer Demonstration mit 100.000 Teilnehmern unter der Parole „Gegen das atomare Wettrüsten in West und Ost“, und in kurzer Zeit wurde der Hamburger Appell von mehr als 800 Organisationen unterzeichnet. Es handelte sich um eine buntscheckige Koalition, die weit über den christlichen Bereich hinausging: Da gab es ergraute Ostermarschierer neben dem einflußreich werdenden Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz, Kommunisten neben Neutralisten, Gewerkschafter und Sozialdemokraten neben Freidemokraten, die sich nicht an die Distanzforderung ihrer Verbände hielten.

Aber zweifellos reichte die christliche Wurzel dieser „Neuen Friedensbewegung“ am tiefsten. Im Lauf der Geschichte war das Evangelium zwar immer nur von einer Minderheit als Aufforderung zu absoluter Gewaltlosigkeit verstanden worden. Doch im 19. Jahrhundert bahnte sich eine gewisse Verschiebung der Gewichte an, als unter dem Eindruck der Schrecken moderner Kriegführung eine breitere pazifistische Bewegung entstand. Sie übte Anziehungskraft nicht nur auf die Religiös-Radikalen aus, sondern auch auf Idealisten, die von einer Menschheitsrepublik träumten, oder auf Pragmatiker, die nach gangbaren Wegen suchten, die Gefahr bewaffneter Konflikte zu mindern.

Die politische Linke sah in dieser Strömung einerseits einen Verbündeten, der wie sie selbst die bestehenden Verhältnisse vollständig ändern wollte, andererseits einen problematischen Alliierten, dessen prinzipielle Ablehnung von Gewalt man ehrlicherweise nicht teilen konnte. Denn für Anarchisten, Kommunisten oder Sozialisten war der Weltfrieden etwas, das erst nach der großen Revolution – also einer massiven Gewaltanwendung – zu realisieren war. Bis dahin konnte es von Fall zu Fall ein Zusammengehen mit dem Pazifismus geben, aber nicht mehr als das. Die Friedensbewegungen des 20. Jahrhunderts blieben alle von diesem Zwiespalt geprägt: Hier das rigorose „Die Waffen nieder!“ (Bertha von Suttner), da die Instrumentalisierung der Friedenssehnsucht.

Kommunistische Einflußnahme über pazifistische Strömungen

Besonders deutlich wurde das nach Beginn des Kalten Krieges im geteilten Deutschland. Nirgends hatte die Angst vor einem militärischen Zusammenstoß zwischen den Supermächten größere Plausibilität. Worauf die USA wie die Sowjetunion mit massiver Friedenspropaganda reagierten, aber auch mit dem Versuch, über die „Partei des Westens“ im Osten, die „Partei des Ostens“ (Ernst Nolte) im Westen Einfluß zu nehmen. Ein Vorgehen, das in der offenen Gesellschaft der Bundesrepublik ungleich einfacher zu verwirklichen war als in der geschlossenen der DDR. Moskau bediente sich dabei immer einer Mischung aus Drohung und Lockung. Zur Lockung gehörten alle Angebote umfassender Abrüstung und möglicher Wiedervereinigung, wenn Bonn auf die politische und militärische Integration in die Nato, vor allem aber auf eigene Streitkräfte verzichtete. 

Die „Ohne mich“-Bewegung der 1950er Jahre, die gegen den Aufbau der Bundeswehr gerichtet war, und die frühen Proteste gegen die atomare Rüstung waren immer von solchen Angeboten mitbestimmt. Aber nicht nur. In ihnen kam auch eine tiefe Verstörung über die Folgen zweier verlorener Weltkriege zum Ausdruck und eine ernsthafte sittliche Empörung angesichts der Möglichkeit totaler Vernichtung der menschlichen Zivilisation durch Mittel, die von Menschen geschaffen wurden. Bezeichnend war in dem Zusammenhang die Resonanz der „Göttinger Erklärung“ gegen die Nuklearrüstung, die achtzehn Naturwissenschaftler von Weltrang 1957 veröffentlichten.

Aber selbst das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß pazifistische Strömungen regelmäßig der Tarnung kommunistischer Einflußnahme dienten. Stalin hatte diese Möglichkeit früh erkannt, und, nachdem sich keine KP fähig zeigte, mittels freier Wahlen an die Macht zu kommen, eine Friedensbewegung organisieren lassen, in der Kommunisten möglichst gar nicht in Erscheinung treten sollten. Man bediente sich im Regelfall einer Volksfrontpolitik neuer Art, bezog vor allem „progressive“ Christen und „bürgerliche“ Intellektuelle ein, um den Eindruck der Überparteilichkeit zu vermitteln. In Deutschland kamen sogar ausgesprochene Nationalisten hinzu, um bestimmte Gruppen der „Ehemaligen“ zu gewinnen, wenn man in den Vordergrund stellte, daß ein neuer Krieg das Vaterland endgültig zerstören werde. Bezeichnend war in diesem Kontext auch, daß die 1960 gegründete „Deutsche Friedensunion“ (DFU) gleichzeitig als Nachfolgerin der verbotenen KPD und als Sammelbecken aller „Friedenskräfte“ dienen sollte.

Der Plan scheiterte rasch. Die DFU blieb bei Wahlen erfolglos und gewann lediglich Einfluß auf Teile der „heimatlosen Linken“. Die Situation änderte sich erst 1968 mit der Zulassung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und der Einleitung der „Neuen Ostpolitik“. Die DKP verfügte aufgrund der logistischen und finanziellen Unterstützung der DDR über eine „trojanische Herde“ (Karl Richter alias Werner Sticken), und der Linksruck in der Gesellschaft nährte die Vorstellung, daß die Blockkonfrontation entweder auf einem historischen Mißverständnis oder bösem Willen – der USA oder beider Supermächte – beruhte. Ausschlaggebend für den wachsenden Einfluß des pazifistischen Zeitgeistes war aber eine diffuse Stimmungslage, genährt vom antiautoritären Affekt der Achtundsechziger, dem Erbe der Anti-Vietnam-Proteste, modischer Zivilisationskritik und der Erwartung allgemeiner Menschheitsverbrüderung im Stil von John Lennons „Imagine“. 

Zu einer wirkungsvollen Politisierung kam es deshalb erst im Gefolge des erwähnten „Doppelbeschlusses“ der Nato vom 12. Dezember 1979, der die Aufstellung neuer Mittelstreckenraketen plante. Gegen diese Entscheidung erhoben sich massive Proteste in den USA und ganz Westeuropa. Was die sowjetische Seite aufmerksam registrierte und für eigene Zwecke zu nutzen suchte. Die ganz in die Abhängigkeit der DKP geratene DFU sollte deshalb die Aufgabe übernehmen, in Kontakt zu der gerade formieren Partei Die Grünen und einer breiten, aber nicht scharf abgrenzbaren Sympathisantenszene zu treten. Am 15. und 16. November 1980 trafen sich etwa eintausend Personen dieses Spektrums zum „Krefelder Forum“, das einen „Krefelder Appell“ verabschiedete, der forderte, die Umsetzung des Doppelbeschlusses zu verhindern und einen Prozeß allgemeiner Abrüstung einzuleiten. Da es für diese Zielsetzung erkennbar keine parlamentarische Mehrheit gab und die pazifistischen Anwandlungen der Regierungsparteien SPD und FDP auf den entschlossenen Widerstand ihrer Führungen stießen, wollte man den Druck der Straße nutzen.

Das Who-is-Who der „Unbotmäßigen“ war zugegen

Dafür, daß das nicht völlig aussichtslos war, sprach, daß der Krefelder Appell in relativ kurzer Zeit von mehr als vier Millionen Menschen unterzeichnet wurde. Dagegen sprach der Ruch kommunistischer Steuerung, den er nie abzustreifen vermochte. Schon deshalb hatte die Initiative der christlichen Gruppierungen auf dem Hamburger Kirchentag wesentlich mehr Aussicht auf Erfolg. Was galt, obwohl kein wesentlicher Unterschied zwischen den „Krefeldern“ und den 800 Gruppierungen bestand, die zu der Großveranstaltung in der Bundeshauptstadt eintrafen. Bezeichnend war in jedem Fall, daß zu den Hauptrednern der Abschlußkundgebung nicht nur der unbotmäßige Sozialdemokrat Erhard Eppler, der unbotmäßige Freidemokrat William Borm und die auf solche Veranstaltungen „abonnierte“ (Wolfgang Rudzio) Theologin Uta Ranke-Heinemann (Martin Niemöller konnte aus Krankheitsgründen nicht erscheinen) gehörten, sondern mit Petra Kelly und Gert Bastian auch Repräsentanten der Partei die Grünen, einer neuen politischen Kraft, die sich anschickte, auf Bundesebene aktiv zu werden, und mit Robert Jungk und Heinrich Böll zwei Männer, die unter Intellektuellen als moralische Instanzen ersten Ranges galten.

Entsprechend euphorisch war die Stimmung der Teilnehmer, die an der größten Demonstration dieser Art in der Nachkriegszeit teilnahmen. Die Grenze der Mobilisierung war damit aber noch nicht erreicht. Im Folgejahr sind am 10. Juni mehr als 500.000 Menschen in der Hauptstadt zusammengekommen, und an den Aktionen des „Heißen Herbstes“ 1983 dürften sich bundesweit 1,3 Millionen Bürger beteiligt haben. Das eigentliche Ziel wurde trotzdem nicht erreicht. 

Die neue, von Helmut Kohl aus CDU/CSU und FDP gebildete Regierung unterstützte den von Bundeskanzler Schmidt eingeleiteten Kurs zur Umsetzung des Doppelbeschlusses. Was erklärt, warum die Friedensbewegung nach und nach den Schwung verlor, der sie lange Zeit getragen hatte. Allerdings übernahmen die Grünen vieles aus ihrem Fundus – für längere Zeit auch die Forderung nach Nato-Austritt und Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa –, aber die sowjetische Führung zog sich zurück, obwohl sie ihren Einfluß über den einen oder anderen fellow traveller oder Agenten (zum Beispiel Borm oder den umtriebigen Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Kade) bis an die Spitze des westdeutschen Pazifismus auszudehnen vermocht hatte. Ein Motiv dafür war die Unkontrollierbarkeit der ganzen Szene, die vor allem im Beharren auf beidseitiger Abrüstung zum Ausdruck kam, ein anderer die Irritation, die das Übergreifen auf den eigenen Machtbereich hatte. Das galt vor allem für die DDR, auf deren Boden eine Bewegung entstand, die die Verlogenheit des offiziellen „Friedenskampfes“ nicht nur durchschaute, sondern auch anprangerte und ein wichtiges Element jener Opposition bildete, die letztlich zum Zusammenbruch des Systems beitrug.

Foto: Großdemonstration im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981: Bereits auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg wurden die Weichen gestellt