© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Regenten aus Brüssel
Markus Pohl untersucht die Rezeption Kaiser Karl V. in Europakonzeptionen der Neuzeit
Lothar Höbelt

Geschichtspolitik“ ist ein Topos, der in der Regel weder der Politik noch der Geschichte frommt. Wie muß es dann erst um die Geschichte der Geschichtspolitik bestellt sein, dem Derivat dieser Bemühungen, das gegebenenfalls dann vielleicht gar einem „Junk-Bond“ gleicht, sich aber bei archiv-fernen Forschungsprojekten einer zunehmenden Beliebtheit erfreut. Als Resultat stößt man dann oft auf denunziatorisch aufgeladene Binsenweisheiten. Denn selbstverständlich ist jegliche Erinnerung selektiv, um so mehr, wenn sie als Beleg für aktuelle Wunschvorstellungen dienen soll. Freilich: Die Zunft profitiert nicht ungern von den finanziellen Brosamen, die bei derlei Inszenierungen vom Tisch der Politik abfallen.

Der maßgeschneiderte „Erinnerungsort“ der ursprünglichen „EWG der Sechs“ war bekanntlich Karl der Große, dessen geographischer Machtbereich auf Frankreich, die Bundesrepublik, Benelux und Italien im Groben paßte. Das historische Vorbild Karl V. war mit seinem burgundischen Erbe zwar ebenfalls ganz in der Nähe des zukünftigen EU-Hauptquartiers angesiedelt, aber er verfügte über diverse Zusatzqualifikationen. Er war König von Spanien, sein Wirken reichte über seinen Bruder auch weiter nach Osten, nach Ungarn und Böhmen. Und er war ein Habsburger, Ahnherr einer Familie, die zwar nicht mehr regierte, aber mit dem Politiker Otto von Habsburg über einen hochintelligenten, politisch äußerst aktiven Familienchef verfügte. Daraus ergab sich schon Anfang der fünfziger Jahre die Chance, Karl V. als Vehikel zu benützen nicht bloß für die europäische Einigung, sondern auch für die kommende, aber erst 1986 realisierte Integration Spaniens – durchaus im Einklang mit der Politik der USA, die damals ihr Bündnis mit Franco schloß und seinem Heeresminister Muñoz Grandes als ehemaligem Kommandeur der „Blauen Division“ zum Ritterkreuz mit Eichenlaub auch noch die „Legion of Merit“ verlieh. Nun war im Reich Karls V. zwar bekanntlich die Sonne nie untergegangen. Dennoch war die „abendländische“ Berufung auf ihn, mit ihrer katholischen Schlagseite, zugleich auch mit einer gewissen subtilen Distanz zum „American Way of Life“ verbunden.

Das Streben Karls V. nach der Einigung Europas betont

Der Historiker Markus Pohl hat viele der Tücken des Genres erfolgreich umschifft. Er untersucht insbesondere vier Schriftsteller: neben Otto von Habsburg auch seinen akademischen Lehrer Charles Terlinden, der einen bibliophilen Prachtband über Karl V. herausgab, und Carl Jacob Burckhardt, den Großneffen des „Renaissance-Burckhardt“, selbst Richelieu-Biograph und diplomatisch tätig als Völkerbundkommissar. In Burckhardts Basler Nachlaß hat Pohl einschlägige Korrespondenzen ausfindig gemacht, die belegen, daß Otto sich bei seinen ersten Reden zum Thema dankbar auf Burckhardts Essay von 1954 berief. Die vierte im Bunde ist eine interessante, ein wenig aus dem Rahmen fallende Persönlichkeit: Gertrude von Schwarzenfeld (1906–2000), eine sudetendeutsche Adelige und Gattin eines südamerikanischen Diplomaten, die nach 1946 in Paris lebte und Betrachtungen über Karl V. mit Reiseimpressionen aus Spanien kombinierte.

Die Zusammenstellung Pohls ist somit durchaus stimmig. Schade nur, daß man über die Bücher selbst wenig erfährt: Sicher, alle vier Autoren betonten das Streben Karls V. nach der Einigung Europas gegen all die Widerstände, die man von Franz I. bis Luther perspektivisch allesamt mit der Genesis der Nationalstaaten identifizieren konnte. Aber wo lagen über die bloßen Intentionen hinaus die funktionalen Schwächen Karls V., welche Chancen hat er genützt, welche vergeben? Spannend wäre da vor allem die Würdigung Frankreichs, das nun einmal der große Gegner Karls V. war – noch dazu, wo alle vier Autoren der französischen Kultur eng verbunden waren. Als Otto – viel später als die anderen – 1967 sein Buch veröffentlichte, galt er zu Recht als Anhänger de Gaulles. Bei Burckhardt findet sich zur Rolle Frankreichs in Europa noch eine pessimistische Briefstelle. Doch wie haben die anderen drei diese Hürde umschifft? 

In biographischen Notizen hat Pohl auch versucht, das Netzwerk der „abendländischen Bewegung“ und ihrer diversen Organisationen zu erhellen. Doch Netzwerke funktionieren nun einmal, wenn sie funktionieren, im wesentlichen über informelle Kanäle. Heutzutage ließe sich derlei vielleicht – horribile dictu – über die „sozialen Medien“ rekonstruieren. Doch Vereinsmitgliedschaften, Festschriften und Nachrufe sind kein allzu belastbarer Indikator. Einer der historischen Protagonisten, die in diesem Zusammenhang auftauchen, dürften weniger als Ideenlieferant, sondern wegen nachrichtendienstlicher Kontakte wichtig gewesen sein, andere spielten in der österreichischen Politik eine etwas andere Rolle, als dargestellt. Lohnend wäre eine Untersuchung freilich allemal, warum diese Ansätze zu einer „konservativen Internationale“ gerade dann verfielen, als mit dem Impuls der Reagan/Thatcher-Jahre und dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Sozialismus ihre Wünsche zum Teil in Erfüllung gingen.

Pohl merkt an, mit dem Reigen der Karl-V.-Ausstellungen im Jahre 2000 habe Otto von Habsburg in gewissem Maße ja doch recht behalten. Europa – und damit auch seine prägenden Gestalten – wird jetzt eben nicht mehr von Katholisch-Konservativen beschworen, sondern von den „Links-Illiberalen“, wie sie unlängst so treffend charakterisiert wurden. Doch es ist zumindest fraglich, ob der 2011 verstorbene Otto von Habsburg, geschweige denn Karl V., über diese Vereinnahmung durch die heutige EU-Schickeria allzu glücklich wären.

Markus Pohl: Europa in der Tradition Habsburgs? Die Rezeption Kaiser Karls V. im Umfeld der Abendländischen Bewegung und der Paneuropa Union. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2020, broschiert, 189 Seiten, 79,90 Euro






Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.