© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Eine Welt ohne Nutztiere ist illusorisch
Mit der Herstellung leckerer Fleischimitate lassen sich nicht alle Menschheitsprobleme lösen
Christoph Keller

Umfragen zufolge gibt es in Deutschland 1,13 Millionen Veganer, die weder Fleisch noch Milchprodukte verzehren und statt Leder und Wolle lieber Pflanzen- und Kunstfaser tragen. Das sind aber nur knapp 1,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Würden hingegen sich alle 83,2 Millionen Einwohner „tierfrei“ ernähren und auch auf sonstige tierische Produkte verzichten, käme das sicher ihren gepeinigten Mitgeschöpfen zugute. Vor allem aber, davon sind nicht nur missionierende Veganer überzeugt, könnte ein globaler Ausstieg aus der Tierhaltung Entscheidendes zur „Klimarettung“ beitragen.

Um diese These zu untermauern, läßt Edith Luschmann in ihrem Planspiel über die vegane Zukunftwelt (Natur 10/21) seriöse Quellen sprudeln. Wie eine in Science (Vol 360, Issue 6392) publizierte Studie, der zufolge eine zu 100 Prozent vegane Ernährung 75 Prozent – drei Milliarden von aktuell 4,1 Milliarden Hektar – der für die konventionelle Ernährung benötigten Fläche einsparen würde. Damit dürfte sowohl das aufgrund der Bevölkerungsexplosion im globalen Süden sich verschärfende Problem der Welternährung gelöst wie auch die prognostizierte Klimakatastrophe abgewendet sein. Doch der Verzicht auf Milch, Käse, Wurst und Schnitzel oder gar Hamburger, Steak, Szechuan Pork, Korean BBQ und Sushi dürfte allenfalls in westlichen Unistädten durchsetzbar sein.

Aber schon die Reduktion des Fleischkonsums um rund zwei Drittel, so rechnet die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) vor, reiche aus, um die deutschen Treibhausgasemissionen um 28 Prozent zu reduzieren. Eine vegetarische Ernährung sei klimatisch betrachtet sogar noch empfehlenswerter, und das Optimum bedeute „komplett vegan“, nämlich eine Einsparung der CO2-Äquivalente um 70 Prozent. Um etwa das EU-Planziel „Klimaneutralität“ bis 2050 zu realisieren, kommt es aus Veganer-Sicht also weniger darauf an, sofort alle Kohlekraftwerke abzuschalten oder ökologisch tiefe Fußspuren hinterlassende E-Autos zu fördern als darauf, einen Gesinnungswandel zugunsten pflanzlicher Fleischimitate zu stimulieren.

„Der Bauer hält so viele Tiere, wie er mit seinem Land ernähren kann“

Für den Lebensmittelwissenschaftler Kurt Schmidinger ist ein solcher Wandel nur vorstellbar, wenn der weltweit verfolgte kapitalistische Wachstumspfad sich als Sackgasse erweise, so daß die Menschheit sich entweder zu einer von apokalyptischen Verwerfungen begleiteten Umkehr gezwungen sieht oder sie diesem Desaster durch eine „Revolution“ der Ernährung ausweicht. Allerdings müßten dafür Fleischalternativen besser schmecken und gesünder sein. Mit seiner 2005 gegründeten Initiative „Future Food“ setzt sich der Österreicher für die Erforschung veganer Fleischalternativen ein. Und er sieht sich als Vorreiter, denn inzwischen investieren auch große Fleischkonzerne in diesen stark expandierenden Nischenmarkt.

Auf mehr als der Hälfte der deutschen Agrarfläche werden Futtermittel angebaut. Da in der Massentierhaltung jedoch viel Soja verfüttert wird, ist für Martin Schlatzer (Forschungsinstitut für Biologischen Landbau/FIBL) in die Negativbilanz mit einzubeziehen, daß das Gros der Nutztierhalter auf riesige Flächen in Südamerika zugreift und so ein „starker Treiber der Regenwaldabholzung“ ist. Vermindere man hiesige Viehbestände, könnte man drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die CO2-Belastung nehme ab, der Amazonaswald erhole sich, und die Regenwälder Indonesiens müßten nicht Palmöl-Plantagen weichen (JF 39/21), weil dieses Produkt durch das Öl lokaler Feldfrüchte ersetzt werden könnte, die auf Flächen wüchsen, auf denen keine Rinder und Schafe mehr weideten.

In einem sind sich radikale Veganer und moderate Vegetarier einig: „Die Massentierhaltung muß weg, und zwar schnell.“ Doch ein „totaler Verzicht auf Tierhaltung löst nicht alle Probleme“, warnt die Ethikerin Kirstin Zeyer (Uni Oldenburg). Das verdeutliche die Almwirtschaft: Ohne die zum Frühjahr aufgetriebenen Kühe käme es zur Wiederverwaldung und zum Artensterben, das vor allem Insekten am härtesten träfe.

Für Demeter-Bauern, die nach 1924 formulierten Richtlinien des Anthroposophen Rudolf Steiner auf biodynamische Kreislaufwirtschaft setzen, ist das ohnehin selbstverständlich: „Der Bauer hält so viele Tiere, wie er mit seinem Land ernähren kann und deren Mist sorgt für eine hohe Bodenfruchtbarkeit, die beste Lebensmittel für den Menschen hervorbringt.“

„Geht’s auch ohne Tier?“; in Natur 10/21:

 wissenschaft.de

 doi.org/

 ourworldindata.org