© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Schönheitsideal XXL
Schamlos: Um „Fat Shaming“ entgegenzutreten, wird mit Ästhetik und Gesundheit gebrochen
Boris T. Kaiser

Seit einiger Zeit macht in der hypersensiblen modernen Gesellschaft ein neuer Opferbegriff die Runde: „Fat Shaming“. Als „Fat Shaming“ oder auch „Bodyshaming“ gilt – nach den aktuellen Maßstäben der Politischen Korrektheit – alles, was fettleibige Personen an ihrer „Body Positivity“-Haltung zweifeln lassen könnte. Der zufolge sollte jeder ein positives Selbstbild vom eigenen Körper haben, egal in welchen Zustand sich dieser gerade befindet. Die Zeiten, in denen selbst inzwischen überwoke Musiker wie Westernhagen oder Die Ärzte relativ ungestraft lustige Schmählieder über „Dicke“ oder „Die fette Elke“ singen konnten, sind lange vorbei.

Heute gilt die Thematisierung von auch noch so krankhafter Fettleibigkeit als böse Diskriminierung. Gesundheitsgefährdend übergewichtige Menschen darin zu bestärken, daß sie kein Problem hätten und zudem wunderschön seien, gilt dagegen als vorbildliche Wertschätzung für das sich selbst langsam zu Tode mästende Gegenüber. Diese verformten moralischen Definitionen sind ein ziemlich guter Gradmesser für den Stand der geistigen Gesundheit der postmodernen Gesellschaft.

Die Berliner Theater-Performance „Suit your Body“ ist einer der zahlreichen Versuche, diese neue Haltung in Sachen Körpergewicht gesellschaftlich zu etablieren. Als „Bühnenbild“ hat der Theaterdiscounter ein Schwimmbad gewählt, weil Dicke dort besonders stark von Ausgrenzung betroffen seien. In der Audio- und Lichtperformance bekommen die Besucher unter anderem ein Interview mit der Vorsitzenden der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung, Natalie Rosenke, zu hören. 

Die Aktivistin wiegt bei 1,60 Metern Körpergröße mehr als 100 Kilo. „Ich bin oft in Räumen unterwegs, wo von Übergewicht gesprochen wird, wo ich frage: Von welchem ‘Über’ reden wir? Über erwünscht, über moralisch gut, über – äh? Warum ist dieses Über erforderlich?“ keucht die Übergewichtige, der das feministische Kollektiv „Frauen und Fiktion“ (FuF), das die Installation eingerichtet hat, einen mehrstimmigen Chor zur Seite gestellt hat. Überall, wo es um genormte Schönheit geht, habe sie als dicke Frau nur Schmerz erfahren, sagt Rosenke. Damit sich der Schmerz von dicken Frauen künftig auf die Gelenke beschränkt, ohne daß sie dabei den Schönheitsidealen der Normalgewichtigen ausgesetzt sind, werden inzwischen sogar die Regeln für Mißwahlen aufgeweicht. 2021 gab es mit der Bloggerin Julia Kremer das erste „Plus-Size-Model“ in der 60jährigen Geschichte der „Miss Germany“-Wahl, bei der es neuerdings in erster Linie um Charakter und Lebensgeschichten geht. „Für Vielfalt und Haltung“, überschreiben das die Verantwortlichen.

Die „Brigitte“ fordert bauchfrei für alle

Das Plus-Size-Model, früher hätte man gesagt „Übergrößen-Model“, soll so etwas wie der Gegenentwurf zum sogenannten Magermodel sein. In gewisser Weise stimmt das sogar. Während viele klassische Laufstegschönheiten mit Kleidergröße Null oder „Zero“, also einer Konfektionsgröße noch unter „S“ oder „XS“, nach allgemeinem medizinischen Verständnis in nicht gesunder Weise untergewichtig sind, bewegen sich viele der Plus-Size-Models bereits in Richtung Adiposität. 

Gerne wird hier auch der englische Begriff „curvy“ verwendet. Dieser wird dabei aber absolut überstrapaziert. Denn während er ins Deutsche übersetzt eigentlich lediglich „kurvig“ bedeutet, schreiben ihn sich auf Instagram und Co. viele Damen auf die breiten Hüften, bei denen längst keine Kurven oder sonstigen Konturen mehr zu erkennen sind.

Die Frauenzeitschrift Brigitte, die schon immer eher die reifere Dame ihre Zielgruppe nannte, ermutigte ihre Leserschaft kürzlich dazu, sich verstärkt bauchfrei zu kleiden. Die Zeiten, in denen das allein ein Trend für schlanke Teenie-Mädels war, ist laut der Redaktion vorbei. Die heutige Bauchfrei-Mode würde auch und gerade Frauen stehen, die schon ordentlich Bauch zum Freilegen haben. 

Die Parallelen zwischen Postmoderne und den dekadenten Zeiten des späten Roms, wo es angeblich als schick galt, sich durch das Kitzeln mit einer Feder am Gaumen zum Erbrechen bringen zu lassen, auf daß man sich weiter im Liegen füttern lassen konnte, werden immer offensichtlicher.