© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/21 / 08. Oktober 2021

Der Flaneur
Die Jugendliebe
Paul Leonhard

Auf den zweiten Blick ist alles vertraut. Diese blaugrauen Augen, die Sommersprossen auf der Nase, der spöttisch verzogene Mund. Dieses Lachen und die langen blonden Haare. Ich sitze meiner Jugendliebe gegenüber. Nach 40 Jahren. Es ist wie damals, nur daß wir keine Händchen halten, uns nicht tief in die Augen schauen, sondern vorsichtig mit Blicken abtasten. 

Wer ist der andere geworden, was hätte sein können? Fragen über Fragen. Immer weiter geht es in die Vergangenheit. Puzzlesteinchen der jeweiligen Erinnerung setzen sich zu Bildern zusammen, die plötzlich ganz anders sind als jene, die man selbst parat hatte. Wir stellen Fragen, die wir uns früher nie getraut hätten und sind verblüfft über die Antworten. Was waren wir damals blauäugig, wo wir doch die Größten zu sein glaubten.

Wie damals fahre ich sie nach Hause, nur nicht mehr auf der Simson, sondern im Cabrio.

Im Gespräch tauchen längst vergessene Namen auf, zu denen das Gedächtnis plötzlich Gesichter zaubert. Freunde, Klassen- und Spielkameraden aus einer anderen Zeit. Einige haben kurz vor Torschluß noch aufs falsche Pferd gesetzt, sind in die Partei eingetreten, um Karriere zu machen oder, wie sie sagten, das System von innen heraus zu reformieren, allein die Zeit reichte nicht mehr. Andere haben Anträge gestellt und sind verschwunden, einige auch geblieben. Die Klassentreffen? Wir waren beide nicht da.

Einen halben Tag später sitzen wir wie früher vor dem Haus ihrer Eltern. Wie früher habe ich sie heimgefahren, nur nicht mehr auf dem Simson-Mokick, sondern im Cabrio. Die Sonne scheint, und es gäbe noch unendlich viel zu erzählen, als wir uns mit Wangenküßchen verabschieden und nicht wie einst mit Zungenkuß. Ihr Vater wird vorwurfsvoll auf die Uhr schauen und fragen, wieso die Tochter so spät kommt und wo sie so lange gewesen ist. Dann wird diese mit sanftem Lächeln sagen, bei einem Jungen aus jener Clique, vor der er sie damals schon gewarnt hat. Zu Hause krame ich eine Schachtel heraus mit Briefen und Fotos aus jenen Jahren. In einem schreibt sie, wie lieb sie mich hat, in einem anderen hatte ich offenbar verkündet, nicht mit ihr an die Ostsee zu trampen. Wir sind trotzdem gefahren. Wer nachgegeben hat, weiß ich nicht mehr. Stur konnten wir beide sein. Ob sie meine Briefe noch hat? Vielleicht ist sie ja wieder einmal in meiner Stadt.