© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Einer geht
AfD: Niemand stand länger an der Spitze der Partei als er/ Nun kündigt Jörg Meuthen seinen Rückzug an
Christian Vollradt

Am Montag morgen brachte eine E-Mail Gewißheit. Die Frage „tritt er noch einmal an oder nicht?“, die viele Parteimitglieder aber auch Journalisten seit Monaten umtrieb, wurde damit beantwortet: Nein, tut er nicht. Der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen wird sich auf dem Parteitag im Dezember nicht zur Wiederwahl stellen. 

In seinem Rundbrief an alle Parteimitglieder schrieb der Europa-Abgeordnete, der seit 2015 (mit) an der Spitze der AfD steht, er habe sich „nach vielen intensiven Gesprächen“ dazu entschlossen, „nicht für eine weitere Amtszeit als Bundessprecher zu kandidieren.“ Mit dieser Klarstellung zwei Monate vor dem Wiesbadener Parteitag erspart der bisher am längsten amtierende AfD-Chef seinen Anhängern wie auch seinen nicht zu knapp vorhandenen innerparteilichen Gegnern eine längere Hängepartie. Zugleich ist damit auch – fürs erste – vom Tisch, was mancher in der AfD für nicht unwahrscheinlich gehalten hatte: daß der Vorsitzende genauso wie zwei seiner Vorgänger regelrecht hinschmeißt und mit lautem Knall seiner Partei den Rücken kehrt. Denn Meuthen betonte demgegenüber in seinem Scheiben, er werde sich damit keineswegs aus der Politik zurückziehen und „ins Privatleben verabschieden“, sondern „selbstverständlich meine politische Arbeit fortsetzen“. Nicht unerwähnt ließ er indes „manche Härten und Enttäuschungen“.

„Mit einem lachenden und einem weinenden Auge“

Weitgehend einig sind sich Beobachter des Parteigeschehens, daß der Parteivorsitzende mit diesem Schritt die Konsequenzen aus der Einsicht gezogen hat, im Falle einer weiteren Kandidatur mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit kein gutes Ergebnis einzufahren, ja möglicherweise sogar die nötige Mehrheit zu verfehlen. Bereits seit einiger Zeit machte Meuthen keinen Hehl daraus, daß ihn das Verhalten einiger im eigenen Lager enttäuschte. Offensichtlich sah er sich zusehends isoliert. Bisherige Mitstreiter indes kritisierten im gleichen Zeitraum, Meuthen habe zunehmend eigenmächtig und ohne Absprache gehandelt. Nicht selten fiel dann das Verdikt, der Vorsitzende zeige sich „beratungsresistent“ …

Unverändert blieben die Verwerfungen und Konflikte mit seinem Co-Sprecher Tino Chrupalla sowie vor allem mit der Vize-Vorsitzenden und Bundestagsfraktionschefin Alice Weidel. Zuletzt waren bei der Pressekonferenz nach der Bundestagswahl die unüberwindbaren Differenzen offen zutage getreten. Während das Spitzenduo Weidel/ Chrupalla den Erfolg der AfD, erneut zweistellig in den Bundestag eingezogen zu sein in den Mittelpunkt seines Resümees stellte, betonte Meuthen die Verluste, die die Partei zu verkraften hatte. Ohne Zweifel trafen beide Feststellungen zu. In einer funktionierenden Führung hätte man die verteilten Rollen zuvor festgelegt und in einem Sowohl-Als-auch Positives wie Negatives bilanziert. So aber blieb das Spektakel einer sich permanent widersprechenden Parteispitze – wie beim kindlichen Nein-Doch-Spiel. 

Wenig überraschend angesichts der gelinde gesagt uneinheitlichen AfD rief der Rundbrief Meuthens unterschiedliche Reaktionen hervor. Bedauern auf der einen und – nicht immer offen geäußerte – Freude auf der anderen Seite. Manche mögen dem Parteimitglied zustimmen, das gegenüber der JUNGEN FREIHEIT äußerte, es habe die Nachricht mit einem lachenden und einem weinenden Auge aufgenommen. Zum einen sei Meuthen nach wie vor das Aushängeschild einer bürgerlich-konservativen AfD. Mit seiner Rückzugsankündigung werde jenen neues Futter geboten, die eine weitere Verschiebung der Partei nach rechts zu erkennen meinen. Andererseits habe Meuthen am Ende zu häufig gegen die eigenen Leute geschossen, sich geradezu verkämpft.

Die Mail habe ihn überrascht, die Entscheidung jedoch nicht, meint ein AfD-Parlamentarier. Daß Meuthen sich auf diese Weise zurückziehe – ohne den großen „Knall“ – darin sieht der Politiker auch eine Form der Reife der Partei. Bei der Frage, wie es weitergeht, dürften jedoch nicht nur Entscheidungen über die neuen Köpfe an der Spitze eine Rolle spiele, sondern noch viel mehr die Inhalte. „Wir haben nicht nur ein Personal-, sondern vor allem ein Ideen-Problem“, bemerkt der Funktionär selbstkritisch. 

Völlig offen bleibt, wie es an der Parteispitze weitergeht. Bleibt es bei der Doppel- oder kommt die Einzelspitze? Deren Fürsprecher finden sich vor allem in den höheren Parteihierarchien. Doch meist folgt sofort der Hinweis: Die Partei sei allerdings noch nicht reif dafür. Daß der jetzige Co-Vorsitzende Tino Chrupalla, der wieder antreten will, auch gewählt  wird, gilt als relativ sicher. Der Sachse repräsentiert nicht nur einen der bei Wahlen erfolgreichsten Landesverbände, er verteidigte zudem sein Direktmandat im Bundestag. Ein Ost-West-Duo halten viele für weiterhin wünschenswert. Als mögliche Partner kursieren neben Alice Weidel auch immer wieder die Namen Rüdiger Lucassen und Peter Boehringer. Der bisherige Vorsitzende des Haushaltsausschusses im Bundestag ist spätestens seit seinem „Dexit“-Erfolg beim Parteitag in Dresden auch bei Parteirechten beliebt. Schon vor einiger Zeit äußerte er sinngemäß, er dränge sich selbst nicht mit entsprechenden Ambitionen nach vorn, werde sich jedoch nicht sträuben, wenn die Partei ihn brauche. Der nord-rhein-westfälische Landesvorsitzende Lucassen teilte mit, er werde sein „weiteres Vorgehen überlegen“. Unmittelbar vor dem Bundes- steht für ihn noch ein Landesparteitag an – inklusive Vorstandswahl. Auf zwei Hochzeiten zu tanzen, dürfte schwer zu vereinbaren sei. 

Und Meuthens künftige Rolle? Selbst ein Mann von der AfD-Basis, der seinem Kurs eher kritisch gegenüberstand, meint gegenüber der jungen freiheit, er wünsche sich, daß nun gegen den bald ehemaligen Parteichef „nicht nachgetreten wird“.

Foto: Jörg Meuthen in der Pressekonferenz nach der Bundestagswahl, im Hintergrund Tino Chrupalla und Alice Weidel: „Manche Enttäuschungen“