© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Radeln, liefern, feuern
Bringdienst „Gorillas“: Wilde Streiks der Belegschaft legen das Start-Up-Unternehmen lahm / Kritik an Arbeitsbedingungen
Björn Harms / Christian Vollradt

Rund um das Warenhaus des Lieferdienstes Gorillas in Berlin-Schöneberg herrscht an einem sonnigen Herbstnachmittag Anfang Oktober reger Betrieb. Doch nicht im Geschäft spielt die Musik, sondern vor der Tür. Knapp 30 Auslieferer, die sogenannten „Rider“, protestieren lautstark gegen die herrschenden Arbeitsbedingungen im Betrieb. Sie sind wie zahlreiche Kollegen in ganz Berlin in einen wilden Streik getreten, der seit mehr als zwei Wochen mal mehr oder weniger intensiv ausgetragen wird. Die Diskussionen rund um das Unternehmen Gorillas beherrschen unterdessen schon seit Monaten die Schlagzeilen. Woher rührt die Kritik? 

Die Gorillas Technologies GmbH ist eine im vergangenen Jahr gegründete Firma mit Sitz in Berlin, die einen Lieferdienst für Lebensmittel und andere Supermarktwaren in Großstädten betreibt. Firmenchef ist der 1987 in Istanbul geborene Unternehmer Kagan Sümer. In Zeiten von Corona hat sich der Markt ausgeweitet. 

Der Kunde bestellt bequem von zu Hause, kleine Auslieferungslager in zentralen Lagen dienen als Stützpunkte, und angestellte Fahrradkuriere bringen die Lebensmittel anschließend zum Kunden. Der Konsum soll also aus öffentlichen Supermärkten in den privaten Bereich verlagert werden. „Gorillas existiert, um dir sofortigen Zugang zu deinen Bedürfnissen zu ermöglichen“, heißt es auf der Website. Dazu wirbt das Unternehmen mit einem ehrgeizigen Ziel: Die Waren sollen innerhalb von zehn Minuten beim Besteller ankommen. Dementsprechend stehen die Kuriere unter Druck.

Die einen bekommen das Visum, die anderen billige Arbeitskräfte

Auch der Markt ist heiß umkämpft. Nicht nur Gorillas, das derzeit mit knapp 2,6 Milliarden Euro bewertet wird und daher als das höchstbewertete Start-up des Kontinents gilt, auch der deutschlandweit größte Konkurrent Flint, der mit der Supermarktkette Rewe zusammenarbeitet, hat in den vergangenen Monaten dreistellige Millionenbeträge bei Risikokapitalgebern eingesammelt. Zusätzlich steigt ein Investorenkreis um den amerikanischen Lieferdienst DoorDash demnächst mit angekündigten „mehreren hundert Millionen Dollar“ bei Flink ein. In einzelnen Großstädten konkurrieren auch kleinere Glücksritter. „Es sind kostenintensive Geschäftsmodelle“, schreibt das Handelsblatt. „Allein zum Anschub braucht es 100 Millionen Euro Kapital, um eine relevante Größe zu erreichen.“

Als modernes Unternehmen weiß Gorillas zudem um die Notwendigkeit des sogenannten „Virtue signaling“, also des Zuschaustellens moralischer Integrität im Sinne des „woken“ Zeitgeistes. Das Team spiegele die „Diversität der Gesellschaft“ wider, verspricht das Unternehmen auf seiner Homepage. Passend dazu finden sich immer wieder „LGBTQ“-freundliche Regenbogen-Sticker auf den Rucksäcken der Fahrer, während diese bemüht sind, in schnellster Zeit kiloschwere Lasten durch die Straßen zu bugsieren.

Da kommt es dem Unternehmen nun äußerst ungelegen, daß die Arbeitsbedingungen in der Öffentlichkeit minutiös ausgeschlachtet werden. An mehreren Standorten kam es in den vergangenen Wochen zu wilden Streiks – so auch in Berlin-Schöneberg. „Die Arbeitsbedingungen sind wirklich katastrophal“, erzählt vor Ort ein „Rider“ im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. „Kaputte Fahrräder sind keine Seltenheit, Rückenschmerzen aufgrund der Transportlast sind natürlich alltäglich.“ Dazu komme der Druck des schnellen Auslieferns und die speziellen Arbeitsverträge. Die sind auf ein Jahr begrenzt, die Probezeit dauert dabei ein halbes Jahr.

Es ist auf den ersten Blick eine Art Win-Win-Situation für die vielen Fahrer bei Gorillas, die aus dem Ausland stammen, und das Management. Erstere erhalten den notwendigen Nachweis einer Arbeitsstelle, um an das begehrte Visum für Deutschland zu kommen. Gorillas wiederum hat mit diesen Modalitäten ein Druckmittel gegenüber seinen Mitarbeitern. Wer nicht spurt, dem droht der Rausschmiß – und damit der Verlust des Aufent­haltsrechts. Zudem kann die Firma den Lohn nach unten drücken, auch aufgrund des stetigen Nachschubs an Fahrern. Diese erhalten derzeit einen Stundenlohn von 10,50 Euro und fordern nun eine Anhebung auf 12,50 Euro.

Das Unternehmen reagierte in der vergangenen Woche mit aller Härte auf die Proteste. Gorillas kündigte laut Verdi mehr als 350 Beschäftigten, die sich an Arbeitsniederlegungen beteiligt hatten, weil die Streiks nicht von einer anerkannten Gewerkschaft organisiert wurden. Die Planungen und Verlautbarungen übernahm tatsächlich das „Gorillas Workers Collective“, das wiederum in Berlin eng vernetzt mit linksradikalen Strukturen wie der „Rigaer 94“ oder dem Jugendclub „Potse“ ist.

„Solche unangekündigten und nicht gewerkschaftlich getragenen Streiks sind rechtlich unzulässig“, teilte Gorillas mit. „Nach intensiver Abwägung sehen wir uns gezwungen, diesen rechtlichen Rahmen nun durchzusetzen.“ Daher beende man das Arbeitsverhältnis „mit denjenigen MitarbeiterInnen, die sich aktiv an den nicht genehmigten Streiks“ beteiligten. Die meisten Arbeitsrechtler stützen die Ansicht, derartige „wilde Streiks“ erfüllten den Tatbestand der unberechtigten Arbeitsverweigerung und Blockade von Betriebsstätten. Damit liege ein legitimer Grund für eine – auch außerordentliche – Kündigung vor. Für Firmenchef Sümer sind die Konflikte lediglich „Unstimmigkeiten“, die in einem schnell wachsenden Start-up eben vorkämen und die man „ständig korrigieren“ müsse, wie er der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gegenüber einräumte. „Unsere Rider sind uns sehr wichtig. Wir nehmen ihre Kritik ernst.“

Nach Auskunft von Gorillas-Beschäftigten kommt eine Mehrzahl der Auslieferungsradfahrer aus dem Ausland, viele von ihnen aus lateinamerikanischen Staaten, etwa Argentinien und Chile. Ihren Aufenthalt und die Beschäftigung bei dem Plattform­unternehmen ermöglichen sogenannte Working-Holiday-Visa. Die sind eigentlich für Ferienjobs gedacht, in der Regel sind sie auf ein halbes Jahr Arbeit bei ein und demselben Arbeitgeber beschränkt. Für sie ist der Lieferdienst, bei dem – ganz modern – Englisch Unternehmenssprache ist, deswegen erste Anlaufstelle, weil sie keine weitere Qualifikation mitbringen müssen, als radfahren zu können. Nicht einmal Deutsch müssen sie sprechen. Das bedeutet im Gegenzug eine erhöhte Abhängigkeit. 

Die Unternehmen der sogenannten Plattformökonomie oder neudeutsch Gig-Economy sitzen dabei meist am längeren Hebel. So stellte etwa der britische Lieferdienst Deliveroo, der im Sommer 2019 seinen Betrieb in Deutschland aufgegeben hat, seine zunächst als abhängig Beschäftigte tätigen Mitarbeiter auf Solo-Selbständigkeit um. Damit verhinderte das Unternehmen nicht nur die Gründung eines Betriebsrats, es entfielen auch der Urlaubsanspruch oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Außerdem mußte sich Deliveroo nicht mehr an den Kosten der Sozialversicherungen beteiligen. Diese Praxis war bereits Thema einer Anhörung im Bundestag. Tätig wurde der Gesetzgeber jedoch nicht. Das ändere sich wahrscheinlich in den kommenden Jahren, da die mit der Plattformökonomie verbundenen prekären Arbeitsverhältnisse oder neue Formen der Solo-Selbständigkeit eine größere gesellschaftliche Relevanz entfalten werden, ist etwa der Sozialpolitiker René Springer (AfD) überzeugt.

Fotos: Junges Mädchen als „Rider“: „Virtue signaling“ ist Pflicht; Streikende Mitarbeiter in Berlin-Schöneberg: Kaputte Fahrräder, kaputter Rücken