© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Es gibt viel zu tun ...
... fangt hiermit an: Egal, welche Farben-Koalition ans Ruder kommt, diesen wirtschaftlichen und politischen Aufgaben muß sich eine neue Bundesregierung stellen
Dirk Meyer

Die Wahl ist entschieden, die Regierungskoalition aber noch offen. SPD, Grüne und FDP sondieren derzeit eine mögliche Ampel-Koalition unter der Führung von Olaf Scholz. Für die Grünen führen ihre beiden Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck das Wort, die FDP repräsentieren Partei- und Fraktionschef Christian Lindner sowie Generalsekretär Volker Wissing. Über den Stand der Verhandlungen dringt bislang wenig nach außen. Doch unabhängig vom Ausgang dieser Gespräche erwartet jede neue Post-Merkel-Regierung eine Reihe ökonomischer Erblasten ungelöster Probleme. Die Corona-Krise hat die Herausforderungen noch einmal verschärft. Was sind diese und wie könnten mögliche Lösungen aussehen, wenn man das sozial-marktwirtschaftliche Leitbild von Freiheit, Eigentum, Wettbewerb, Wohlstand, Nachhaltigkeit und sozialer Sicherheit verfolgt?





Finanzpolitik

Staatsschulden angehen, Schuldenschranke untenhalten, Finanzen konsolidieren: Die bereits vor der Corona-Pandemie fragilen öffentlichen Finanzen wurden durch die Krise nochmals schwer belastet. So stieg der öffentliche Schuldenstand in Deutschland von 59,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, des BIP, (2019) auf 69,8 (2020) und im Durchschnitt der 19 Euroländer von 85,8 auf 100 Prozent. Der Ausblick für dieses Jahr beinhaltet nochmals einen Anstieg auf 73,1 beziehungsweise 102,4 Prozent. Die finanzielle Nachhaltigkeit steht vollständig in Frage, rechnet man die versteckten Staatsschulden in Gestalt zukünftiger gesetzlicher Verpflichtungen für Renten, Pensionen und Pflegekosten hinzu. Diese implizite Staatsschuld beträgt für Deutschland 369,5 Prozent des BIP. Zusammen ergibt dies eine Staatsschuld von 439,2 Prozent/BIP entsprechend 14,7 Billionen Euro. Eine Rückführung ist dringend erforderlich, soll die junge Generation nicht überfordert werden oder gar den Generationenvertrag aufkündigen.

Die Diskussion um eine Lockerung der Schuldenregel geht daher in die falsche Richtung. Bereits heute werden Ausgaben in Sonderhaushalte (30 Milliarden Euro Hochwasser-Hilfsfonds) verlagert und nicht angerechnet. Auf EU-Ebene bleiben die 390 Milliarden Euro kreditfinanzierter Zuschüsse an die Staaten unberücksichtigt. Zudem gibt es Überlegungen, die nach Art. 115 Grundgesetz erlaubte jährliche Kreditnahme von 0,35 Prozent/BIP aufzuweichen. Abseits der Forderung nach einer vollständigen Aufhebung (Linke) sollen ein kreditfinanzierter „Deutschlandfonds“ (CDU) beziehungsweise ein „Bundes-investitionsfonds“ (Die Grünen) für Infrastrukturinvestitionen zukünftig nicht angerechnet werden, da ihre Erträge die Zinslast decken. Doch wer garantiert die Rentabilität von Investitionen in Klimaschutz- und Alternativenergien? Wünschen für mehr öffentliche Ausgaben wären Tür und Tor geöffnet.

Der richtige Weg wäre der einer raschen Konsolidierung: Subventionstatbestände und Ausgabenprogramme hinsichtlich von Kosten und Nutzen systematisch überprüfen; eine ausgabenseitige Konsolidierung beeinträchtigt das Wachstum weniger als die über die Erhöhung von Steuern und Abgaben. Konkret: Rest-Soli abschaffen; Tarifverlauf der Einkommensteuer strecken, da immer mehr Steuerzahler in den Bereich des Spitzensteuersatzes kommen; Verlustverrechnung erweitern; Erbschaftsteuer reformieren – neben den Freibeträgen niedrigere Steuersätze mit Einbezug der Betriebsvermögen bei umfassenden Stundungsregeln.





Sozialpolitik

Gegenfinanzieren ohne Schulden: Mit einer Sozialleistungsquote von 33,6 Prozent des BIP (2020) fließt erstmals seit Gründung der Bundesrepublik jeder dritte Euro der gesamten Wirtschaftsleistung in die Sozialleistungen (Sozialversicherungen, Beamtenpensionen, Sozialhilfe, Kinder-, Eltern-, Wohngeld, Kinder- und Jugendhilfe). Jegliche weitere Zusatzleistung sollte deshalb zukünftig gegenfinanziert werden, damit keine weiteren Schuldenlasten entstehen. Zudem müssen die sozialen Sicherungssysteme reformiert werden, damit sie dem demographischen Wandel standhalten. Das auf Bevölkerungswachstum ausgelegte Umlageverfahren – die Einnahmen heute werden für die Ausgaben heute verwendet – stößt an seine Grenzen. Die politische Festlegung auf die 40-Prozent-Grenze für Sozialversicherungsbeiträge wird derzeit nur bei einer Verlagerung auf Steuerzuschüsse gehalten. Geplante Steuerzuschüsse für 2022: 5,8 Milliarden Euro Pflegeversicherung; 7 Milliarden Euro Krankenversicherung; 3,4 Milliarden Euro (2021) Bundesagentur für Arbeit; etwa 104 Milliarden Euro Rentenversicherung. Dieser Verschiebebahnhof – in Grenzen bei versicherungsfremden Leistungen für gesellschaftliche Aufgaben durchaus berechtigt – lädt zu ungebremsten weiteren Steigerungen ein.





Rente

Drei Lösungen zur Besserung: Der demographische Niedergang trifft die Rentenversicherung im besonderen. Zur grundlegenden Rentenreform 1957 kamen auf einen Rentner sechs Personen im erwerbsfähigen Alter, heute sind es drei, und 2050 werden voraussichtlich nur zwei Erwerbsfähige einen Rentner finanzieren. Die zwei wesentlichen Gründe sind eine steigende Lebenserwartung und eine sinkende Geburtenrate. Hinzu kommen Leistungsausweitungen an eine wahlwichtige Bevölkerungsgruppe: Erweiterungen der Mütterrente, Einführung der Rente mit 63, Reformen der Erwerbsminderungsrente, die doppelte Haltelinie (Beitragssatz nicht über 20 Prozent; Standardrentenniveau nicht unter 48 Prozent), die Grundrente sowie die Aussetzung des 2008 eingeführten Nachholfaktors.

Reformvorschläge wie die Ausweitung des Kreises der Beitragszahler um Beamte und Selbständige oder eine Deckelung der Rentenhöhe sind juristisch problematisch und ungeeignet, das langfristige Finanzierungsproblem zu lösen. Es bleiben insbesondere drei Stellschrauben: steigende Beitragssätze, ein sinkendes Rentenniveau, ein Anstieg des Renteneintrittsalters. Seit 1960 hat sich die durchschnittliche Rentenbezugsdauer von zehn auf 20 Jahre verdoppelt. Ein von Wissenschaft, Bundesbank und OECD getragener Vorschlag lautet folgerichtig, von drei Jahren zusätzlicher Lebenserwartung zwei Jahre für Erwerbstätigkeit und eins für zusätzliche Rentenzeit zu verwenden. Die Fairneß gebietet Sonderregelungen für Personen mit schlechterem Gesundheitsstatus oder physisch besonders beanspruchenden Berufen.





Arbeitskräftemangel

Erwerbspotential besser ausschöpfen, Fachleute einwandern lassen: Die Erwerbsbevölkerung wird aufgrund der Alterung in den kommenden Jahren stetig sinken. Um dem gegenzusteuern, könnte man an der Erwerbstätigkeit von Frauen ansetzen. Ein flexibleres Angebot zur Kinderbetreuung in Kitas und eine Ganztagesbetreuung in Schulen würde die Bedingungen für eine erweiterte Erwerbstätigkeit von Frauen verbessern, die bei einer bereits hohen Erwerbsquote von 75 Prozent im Vergleich zu Schweden und Frankreich mit 30,5 Wochenstunden etwa vier Stunden weniger arbeiten. Eine Reform des Ehegattensplittings, das ungleich verdienende Ehepaare steuerlich gegenüber einer Einzelbesteuerung begünstigt, könnte ebenfalls die Anreize des geringverdienenden Partners zum Hinzuverdienst steigern. Allerdings ist der grundgesetzliche Schutz von Ehe und Familie zu beachten. Hier gibt es den Vorschlag des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium für ein gedeckeltes Realsplitting, bei dem eine Individualbesteuerung mit Unterhaltsabzug bei gleichzeitiger Erhöhung des Grundfreibetrages kombiniert wird.

Eine weitere Baustelle sind die Hartz-IV-Hinzu­verdienstregelungen. Erscheint Betroffenen ein Spitzensteuersatz von 42 Prozent ab einem Einkommen von 57.919 Euro bereits als zu hoch, so wird Sozialhilfeempfängern eine „Transferentzugsrate“ von 80 Prozent zugemutet. Lediglich 100 Euro Hinzuverdienst sind anrechnungsfrei, bei Einkünften zwischen 100 Euro und 1.000 Euro dürfen aber nur 20 Prozent behalten werden. Dies mindert insbesondere die Arbeitsaufnahme im Niedriglohnsektor, so daß hier beispielsweise eine zeitliche Staffelung des Abzuges helfen könnte.





Bildung

Aus- und Weiterbildung – Chancengleichheit herstellen, Produktivität steigern: Als rohstoffarmes Land sind Bildung und Ausbildung die Grundlage für zukünftigen Wohlstand – für den einzelnen wie für die Gesellschaft. Auch um die Potentiale nutzen zu können, ist Chancengleichheit eine wichtige Voraussetzung. Die Corona-Maßnahmen haben mit den einhergehenden Schulschließungen die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aufgrund des familiären Hintergrunds besonders deutlich gemacht. 6,6 Prozent der Schulabgänger blieben 2018 ohne Abschluß – ein großes gesellschaftlich verschenktes Potential, das gegebenenfalls zu hohen sozialen Kosten führen wird. Für Schulabgänger mit Migrationshintergrund lag dieser Anteil bei 18,2 Prozent. 2013 hatte er noch weniger als elf Prozent betragen – ein Hinweis auf notwendiges Gegensteuern.

Eine Aufholung des pandemiebedingten Rückstandes beispielsweise durch Lehramtsstudenten und Investitionen in die Schul- und Hochschulinfrastruktur sind zentrale Aufgaben. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei der Digitalisierung durch Ausstattung der Schulen, Fortbildung der Lehrer und Zugang jedes Schülers zu entsprechenden Endgeräten. Zur Förderung von Transparenz, Vergleichbarkeit und Mobilität ist die Diskussion um deutschlandweite Zwischen- und Abschlußprüfungen in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Englisch weiterzuführen. Eine fortwährende Anpassung der Inhalte der dualen Ausbildung in Lehrberufen sowie die Weiterbildung in vom Strukturwandel besonders betroffenen Industrien sichert das Angebot passender Fachkräfte.





Klimapolitik

Über den CO2-Preis steuern: Unabhängig von der politischen Bewertung der Ziele der Klimapolitik stehen die Umweltzerstörung und Klimaerwärmung an der Spitze der Agenda der nationalen und internationalen Politik. Beschlossen ist die Reduktion der CO2-Emissionen um 55 Prozent und die vollständige Klimaneutralität bis 2050 auf EU-Ebene. Eine wesentliche Einflußnahme besteht allerdings im „Wie“ der Zielerreichung. Planwirtschaftlich-dirigistische Vorgaben treiben nicht nur die Kosten in die Höhe. Eine Anmaßung von Wissen über den richtigen Weg könnte auch das Ziel verfehlen. Das übereilt und mit Blick auf die Bundestagswahl beschlossene Klimaschutzgesetz gibt ein Beispiel. Demgegenüber können marktwirtschaftliche Prozesse mit knappheitsregelnden CO2-Preisen diskriminierungsfrei den CO2 klimawirksamer Gase für alle Bereiche und möglichst weltweit kosteneffizient steuern, ähnlich anderen Ressourcen wie Rohöl. Hier gilt es, für mehr Rationalität und weniger Politikeinfluß einzustehen.

Foto: Bundesadler mit Rechenschieber: Mit dem Geld der Steuerzahler verantwortlich und sorgsam umzugehen ist eine grundlegende Forderung an die neue Regierung