© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

„Sittenbild des moralischen Verfalls“
Österreich: Mit seinem Rücktritt versucht Sebastian Kurz, der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen
Robert Willacker

Zum zweitenmal binnen zwei Jahren mußte der nunmehrige Ex-Kanzler Sebastian Kurz am vergangenen Wochenende das Bundeskanzleramt am Wiener Ballhausplatz räumen. Im Mai 2019 erzwang noch eine Parlamentsmehrheit aus SPÖ, FPÖ und JETZT im Zuge der Veröffentlichung des „Ibiza-Videos“ mittels Mißtrauensantrag seinen Rücktritt. Diesmal erfolgte der Rückzug freiwillig, um die Regierungskoalition seiner ÖVP mit den Grünen zu retten und um einem erneuten Mißtrauensantrag zuvorzukommen. 

Grund für die politischen Turbulenzen sind neu veröffentlichte Chatverläufe aus dem innersten Machtzirkel um Sebastian Kurz, die auch Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft auslösten. Die Verdachtsmomente der Staatsanwaltschaft gegen den Bundeskanzler, sein engstes Umfeld und eine österreichische Mediengruppe drehen sich dabei um die Vorwürfe der Bestechung, Bestechlichkeit und Untreue. 

Kurz soll sich seinen rasanten Aufstieg an die Spitze der ÖVP und den Einzug ins Kanzleramt durch gefälschte Umfragen und gefällige Medienberichterstattung im Boulevard auf Steuerzahlerkosten erkauft haben, so der Verdacht der Staatsanwaltschaft. Er und sein Umfeld bestreiten alle genannten Vorwürfe; es gilt die Unschuldsvermutung. 

Der grüne Koalitionspartner ist sich indes uneins über den richtigen strategischen Umgang mit dieser Regierungskrise. Teile der Partei, die einer Koalition mit der ÖVP von Anfang an kritisch gegenüberstanden, fordern nun den Ausstieg aus der Regierungsbeteiligung. Eine Mehrheit sieht jedoch im Verbleib in der Regierung und insbesondere durch das Halten des grün geführten Justizministeriums den einzigen Garanten für die Aufklärung der Vorwürfe gegen Kurz und sein Umfeld. 

ÖVP redet nicht vom Rücktritt, sondern vom „Schritt zur Seite“

Letztlich entschied man sich nach parteiinternem Diskussionsprozeß dafür, der ÖVP die Rute ins Fenster zu stellen. Grünen-Vorsitzender und Vizekanzler Werner Kogler, der nach Bekanntwerden der Ermittlungen zunächst noch die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung betonte, schwenkte um und erklärte Sebastian Kurz für „amtsunfähig“. Die ÖVP müsse jemanden „Untadeligen“ für das Amt des Kanzlers benennen, da sonst die Koalition nicht fortgeführt werden könne. Parallel dazu führten die Grünen auch Gespräche mit allen Oppositionsparteien, um die Möglichkeit eines übergangsweisen Vier-Parteien-Regierungsbündnisses unter Ausschluß der ÖVP auszuloten. 

Der politische Druck auf Kurz, der letztlich zum Rücktritt führte, kam jedoch nicht nur von seiten des Koalitionspartners, sondern auch aus der eigenen Partei. Zwar hatten zunächst sowohl die türkisen Regierungsmitglieder als auch die ÖVP-Spitzen in den Bundesländern noch Unterstützungserklärungen veröffentlicht. Wenig später drehte jedoch auch ÖVP-intern der Wind, und ein Teil der mächtigen Landeschefs äußerte deutliche Kritik. 

Unter dem anhaltenden politischen Druck entschied sich der engste Kreis um Sebastian Kurz dann letztlich für eine Rochade: Rücktritt von Kurz als Bundeskanzler und Wechsel an die Spitze der Parlamentsfraktion; der bisherige Außenminister Alexander Schallenberg übernimmt die Kanzlerschaft. 

Offiziell spricht man in der ÖVP in diesem Zusammenhang nicht von Rücktritt, sondern von einem „Schritt zur Seite“, bis die Vorwürfe geklärt seien. Auch hier zeichnet sich jedoch ÖVP-interne Uneinigkeit ab. So hatte etwa der steirische ÖVP-Ministerpäsident Hermann Schützenhöfer verlauten lassen, daß er eine baldige Rückkehr von Kurz als Kanzler nicht sehe. Auch im Falle von Neuwahlen rechnet Schützenhöfer nicht damit, daß Kurz als ÖVP-Spitzenkandidat aufgestellt werde.

Während die Grünen den Wechsel im Bundeskanzleramt zumindest vorläufig akzeptieren, hagelt es von seiten der Opposition Kritik. Es handle sich bei Kurz’ Rückzug nicht um einen vollwertigen Rücktritt, sondern lediglich um ein taktisches Manöver zur Absicherung seiner Macht, so der allgemeine Tenor. „Seit einer Stunde ist Kurz nicht mehr Bundeskanzler, aber Schattenkanzler der Republik“, kommentierte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Die Vorsitzende der sozial-liberalen Neos, Beate Meinl-Reisinger, ortete indes ein „Sittenbild des moralischen Verfalls und systematischen Korrumpierens des politischen Systems“.

Deutliche Kritik kam auch von FPÖ-Chef Herbert Kickl, der sich zunächst „fassungslos“ über die Vorgänge zeigte. Seine Mißbilligung äußert er nicht nur über die ÖVP, sondern auch über die Grünen. Vizekanzler Kogler habe die Gelegenheit verstreichen lassen, „integre Köpfe in der schwarzen ÖVP“ zu fordern und stattdessen „mit seiner Einschränkung auf Kurz den Türkisen den Fluchtweg aufgemacht“.

Auch wenn durch die Rochade koalitionsintern die Wogen zumindest vorerst etwas geglättet wurden, zeichnet sich bereits ab, daß die Krise nicht so bald abebben dürfte. Der Wechsel in den Nationalrat bescherte Kurz fürs erste parlamentarische Immunität, deren Aufhebung er jedoch selbst beantragen wolle, um eine schnelle Aufklärung zu ermöglichen, so Kurz. Ganz dürfte der Neu-Abgeordnete mit den parlamentarischen Abläufen nicht vertraut sein, denn die Aufhebung der Immunität kann nicht von ihm selbst ausgehen. Diese muß per Antrag der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft vom Immunitätsausschuß des Parlaments aufgehoben werden. Politische Beobachter gehen davon aus, daß ein diesbezüglicher Antrag der Staatsanwaltschaft im Parlament eingehen wird. 

 Meinungsbeitrag Seite 2