© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Vorrang des EU-Rechts – nicht in allen Bereichen
Verfassungsstreit zwischen Brüssel und Polen: Die EU-Kommission bangt um die Integrität des EU-Rechts und erhöht den Druck
Curd-Torsten Weick

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geht in die Offensive: „Ich bin zutiefst besorgt über das gestrige Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs. Ich habe die Dienststellen der Kommission angewiesen, es gründlich und zügig zu analysieren. Auf dieser Grundlage werden wir über die nächsten Schritte entscheiden“, erklärte sie am vergangenen Freitag. Die EU sei eine Werte- und Rechtsgemeinschaft. Dies halte „unsere Union“ zusammen und mache sie stark. „Sämtliche Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind für alle Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte, bindend“, betonte die 63jährige entschlossen. Das EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich verfassungsrechtlicher Bestimmungen. Die Kommission werde nicht zögern, von ihren Befugnissen gemäß den Verträgen Gebrauch zu machen, um die einheitliche Anwendung und Integrität des Unionsrechts zu gewährleisten.

Zuvor hatte Polens Verfassungsgericht verkündet, daß europäische Regelungen, soweit EU-Organe außerhalb der von Polen übertragenen Kompetenzen handeln, unvereinbar mit der polnischen Verfassung seien. Ebenfalls verfassungswidrig seien europäische Bestimmungen, die die nationalen Gerichte ermächtigten, Verfassungsbestimmungen zu mißachten oder auf der Grundlage aufgehobener Normen zu entscheiden, sowie Bestimmungen des EU-Vertrags, die die nationalen Gerichte ermächtigen, die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters durch den Präsidenten und Entschließungen des Nationalen Justizrats über die Ernennung von Richtern zu kontrollieren.

In seiner Urteilsbegründung kritisierte Richter Bartłomiej Sochański vor allem den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Wenn dieser nicht aufhöre, Urteile des polnischen Verfassungsgerichts sowie den Status seiner Richter in Frage zu stellen, schließe das Gericht nicht aus, die Verfassungsmäßigkeit der Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu prüfen, einschließlich ihrer Streichung aus der polnischen Rechtsordnung. 

„Das Urteil ist nicht der Beginn des Streits mit der EU, sondern seine nächste Etappe und qualitativ nichts wirklich Neues, schließlich laufen die Gespräche schon seit sechs Jahren“, beschwichtigte dagegen der stellvertretende Leiter des Außenministeriums Paweł Jabłoński. 

„Das Urteil des Verfassungsgerichts der Republik Polen hat die Hierarchie der in Polen und in der EU verbindlichen Rechtsquellen bekräftigt. Der erste Platz in dieser Hierarchie ist immer den nationalen Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten vorbehalten. Die EU-Verträge haben als völkerrechtliche Akte Vorrang vor dem innerstaatlichen Recht mit Gesetzesrang, aber sie können nicht vor den Verfassungen stehen“, gab daraufhin das polnische Außenministerium in einer Note zu verstehen.

Dieser Grundsatz werde von der Rechtsprechung der „Gerichte und Verfassungsgerichte vieler EU-Mitgliedstaaten“ nicht in Frage gestellt. Diese hätten wiederholt entschieden, daß bestimmte Handlungen der EU-Organe, insbesondere des EuGH, als Überschreitung der diesen Organen durch die Verträge zugewiesenen Befugnisse zu werten seien, fügte das Außenministerium hinzu und verwies auf Urteile in Frankreich, Dänemark, Italien, Spanien und des deutschen Bundesverfassungsgerichts.

Budapest solidarisiert sich mit Warschau 

Auch das polnische Verfassungsgericht habe in der Vergangenheit ähnliche Urteile gefällt, obwohl es sich aus Richtern zusammensetzt, die vom polnischen Parlament in allen politischen Konstellationen seit dem EU-Beitritt Polens gewählt wurden. Bereits im Jahr 2005 habe der Verfassungsgerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Marek Safjan den Grundsatz aufgestellt, daß „die Verfassung das oberste Recht der Republik Polen in bezug auf alle internationalen Abkommen ist, die für sie bindend sind, einschließlich der Abkommen über die Übertragung von Zuständigkeiten in bestimmten Angelegenheiten. 

Das aktuelle Urteil habe diese seit langem bestehende Rechtsprechung lediglich bestätigt. Der Verfassungsgerichtshof habe die Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union als solche nicht in Frage gestellt, so Warschau. Er habe nur darauf hingewiesen, daß die Brüsseler Auslegung der Bestimmungen, die zu einem faktischen Vorrang der Normen des internationalen Rechts vor dem nationalen Recht von Verfassungsrang führe, mit der in der polnischen Verfassung festgelegten Hierarchie der Rechtsquellen unvereinbar seien. Die Auslegung des EU-Rechts, die sich aus der jüngsten Rechtsprechung des EuGH – erst Anfang Oktober hatte der Europäische Gerichtshof Polen wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz verurteilt – ergebe und vom Verfassungsgerichtshof beanstandet werde, werde dazu führen, daß die „polnischen Richter gezwungen wären, die Bestimmungen der polnischen Verfassung zu mißachten“, so das Außenministerium. Die Republik Polen respektiere das verbindliche internationale Recht gemäß Art. 9 der Verfassung. Alle Verpflichtungen, die sich aus dem primären und sekundären Recht der Europäischen Union ergeben, blieben in Kraft und werden daher von Polen weiterhin in vollem Umfang respektiert. 

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán begrüßte die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts und forderte gleichzeitig die Institutionen der EU auf, die Souveränität der Mitgliedstaaten zu respektieren. Die Entscheidung sei durch die „schlechte Praxis der Institutionen der Europäischen Union ausgelöst worden, die das Prinzip der Delegation von Befugnissen nicht beachteten und versuchten, den Mitgliedstaaten ohne Änderung der Verträge Befugnisse zu entziehen, die der Europäischen Union nie übertragen worden seien. 

Der Vorrang des EU-Rechts könne nur für Bereiche gelten, in denen Brüssel zuständig sei, und der Rahmen dafür ist in den Verträgen der Europäischen Union festgelegt, heißt es in dem Dokument der ungarischen Regierung. In ihm wird betont, daß die EU-Institutionen verpflichtet seien, die „nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten zu respektieren, die einen untrennbaren Teil unserer grundlegenden politischen und verfassungsrechtlichen Systeme bilden“. Neben den EU-Institutionen seien auch die für die Anwendung und Umsetzung von Gesetzen in den Mitgliedstaaten zuständigen nationalen Behörden, insbesondere Verfassungsgerichte und Gerichte, berechtigt, den Umfang und die Grenzen der EU-Befugnisse zu untersuchen, heißt es in der von Orbán unterzeichneten Resolution.

Vor diesem Hintergrund schauen Brüssel, Warschau und Budapest in Richtung Luxemburg. Dort soll der EuGH über den Anfang des Jahres per Mehrheitsentscheidung der EU-Mitgliedstaaten genehmigten EU-Rechtsstaatsmechanismus zur Wahrung der in der EU „geltenden Werte“ entscheiden. Verstöße gegen diese sollen nun auch mit Kürzung oder Streichung von EU-Geldern geahndet werden können. Polen und Ungarn hatten dagegen geklagt. Brüssel will mit der Umsetzung das Ergebnis abwarten – laut dpa ein „Zugeständnis“, das die Regierungen in Budapest und Warschau im vergangenen Jahr dazu gebracht habe, eine Blockade wichtiger EU-Haushaltsentscheidungen aufzugeben.