© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Eine ZEW-Untersuchung stellt Unabhängigkeit des EZB-Rates in Frage
Wes Brot ich ess’ ...
Dirk Meyer

Angesichts einer Preissteigerungsrate von 3,4 Prozent im Euroraum rückt das Handeln der Europäischen Zentralbank (EZB) in den Fokus. Zur Unabhängigkeit verpflichtet, hat der EZB-Rat kürzlich den Zielwert der Inflation auf „mittelfristig zwei Prozent“ gelockert (JF 31/21). Und wie frei sind die Präsidenten der nationalen Notenbanken und die weiteren EZB-Direktoriumsmitglieder in ihren Voten? Viele Staaten sind hoch verschuldet. In einer Währungsunion muß der „einheitliche Geldanzug“ allen passen, deshalb galt der Grundsatz: „Wir stimmen nicht ab, sondern wir stimmen uns ab.“ Seit 2010, spätestens mit den erweiterten Anleihekaufprogrammen 2015, endete dieser Konsens. Seither sehen EZB-Kritiker eine „fiskalische Dominanz“, die die Geldpolitik in den Dienst hoch verschuldeter Staaten stellt.

Die ursprünglichen Rollen wären vertauscht: Die EZB stabilisiert mit Nullzins und Anleihekäufen die Staatsverschuldung, während die Inflation von den Anforderungen der Fiskalpolitik zur realen Schuldenentwertung bestimmt wird. Naheliegend ist deshalb ein entsprechendes Abstimmungsverhalten – doch wer in den EZB-Ratssitzungen wie abstimmt, bleibt der Öffentlichkeit verborgen. Deshalb haben die Ökonomen Friedrich Heinemann und Jan Kemper (ZEW Mannheim) mediale Äußerungen von Ratsmitgliedern dahingehend ausgewertet, inwiefern diese eher dem „Gurren einer Taube“ oder dem „Ruf eines Falken“ zurechenbar sind. Hierzu wurden ihre Aussagen zum EZB-Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) herangezogen. Das Ergebnis ist eindeutig: Es gibt nicht nur eine Einteilung in eine weiche, inflationäre Geldpolitik bzw. eine harte, restriktive Geldpolitik im EZB-Rat, sondern auch einen klaren statistischen Zusammenhang zur Höhe der Staatsschulden im jeweiligen Heimatland.

So ist der durchschnittliche Schuldenstand bei den „Tauben“ (Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich) knapp doppelt so hoch wie bei den „Falken“-Ländern Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Lettland und der Slowakei. Letztere plädieren tendenziell auch für eine Einstellung bzw. Rückführung der Anleihekäufe. Zwei Punkte heben die ZEW-Autoren allerdings hervor: Zum einen werden öffentliche Äußerungen mit dem tatsächlichen Abstimmungsverhalten gleichgesetzt. Zum anderen weist die Untersuchung lediglich eine statistische Verbindung nach, nicht aber einen kausalen Zusammenhang im Sinne von Ursache und Wirkung. Sollte es ihn dennoch geben, wäre eine doppelte Erklärung denkbar. So könnten Ratsmitglieder eher nationale Interessen vertreten, statt „EURO-päisch“ zu denken. Alternativ könnten die Staaten bereits bei der Amtsbestellung ihrer Notenbankpräsidenten entsprechende Einstellungen bzw. Denkrichtungen vorauswählen.

Wenn dem so ist, droht der Währungsunion eine ihren Bestand gefährdende Zukunft. Nicht ohne Grund hat man bei Gründung jedem Mitglied des EZB-Rates eine Stimme zugesprochen. Doch diese Geschäftsgrundlage eines „Common sense“ scheint vorbei zu sein. Von daher wäre eine Stimmverteilung entsprechend der Kapital- und Haftungsanteile geboten. Auf Deutschland würden dann etwa ein Viertel aller EZB-Ratsstimmen entfallen. Doch dies macht eine einstimmige Vertragsänderung notwendig – und die ist völlig illusorisch.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.