© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Globaler Energiepreisschock
Rohstoffmarkt: Trotz der Versprechen von „Klimaneutralität“ steigt die „fossile“ Nachfrage an
Thomas Kirchner

Von November 1973 bis März 1974 war Deutschland in einem Punkt wiedervereint: Beiderseits der Grenze galt ein Tempolimit von 100 Kilometer pro Stunde. Im Westen gab es in diesem Zeitraum zudem vier autofreie Sonntage sowie Radler und Spaziergänger auf den Autobahnen. An den Tankstellen ging vielerorts der Sprit aus. Die sozialliberale Bundesregierung Willy Brandts war für diese 111 Tage nicht etwa „ergrünt“. Das Energiesicherungsgesetz hatte vielmehr einen ernsten Hintergrund: Der Weltmarktpreis für Erdöl hatte sich von drei auf über zwölf Dollar pro Barrel vervierfacht.

Dies war eine Folge von Produktionssenkungen während des Jom-Kippur-Kriegs sowie des Ölembargos der Organisation der arabischen Erdöl exportierenden Länder (OAPEC) gegen die USA und einige Verbündete. Auf den Ölschock folgte eine Inflationswelle samt Stagnation im Westen, die rund ein Jahrzehnt andauerte. Die DDR spürte die zweite Ölkrise 1979/80 erst, als die in Afghanistan einmarschierte Sowjetunion ihr schwarzes Gold nicht mehr zu „brüderlichen“ Preisen liefern wollte. Dampfloks und Kohlekraft wurden hektisch wiederbelebt.

Doch heute treiben nicht Scheichs und Diktatoren die Energiepreise. Öl ist mit 84 Dollar inflationsbereinigt sogar vergleichsweise günstig: 2008 lag der Ölpreis kurzzeitig bei über 147 Dollar – so hoch wie nie zuvor. Erdgas, Uran und Kohle steigen derzeit stärker, und damit auch die Kosten für den daraus hergestellten Strom. Vergleicht man die jeweilige Energiemenge, dann übertrifft der Gaspreis in Europa den Ölpreis von 250 Dollar pro Barrel um ein Dreifaches. Die Ursachen sind vielfältig. Wenig Wind im Sommer in Europa, Förderpausen bei Tropenstürmen in den USA, Brände in russischen Gaswerken, die übereilte Umstellung auf erneuerbare Energien in Europa sowie Trockenheit im Westen der USA und Südamerika, wo Wasserkraft ein wichtiger Stromlieferant ist. Hinzu kommt der coronabedingte Stillstand in Uran- und Kohleminen, ein kalter Winter 2020 und heißer Sommer 2021 in Asien, der die Lager leerte: Der internationale Energiemarkt leidet an vielen Stellen gleichzeitig. 2020 sank der weltweite Stromverbrauch um ein Prozent. In diesem Jahr wächst er um fünf, 2022 laut Prognosen um vier Prozent. Der Zuwachs wird nur zur Hälfte durch Wind-, Solarenergie und Co. bereitgestellt. Fossile Energieträger und Kernkraft dominieren insgesamt weiterhin. Deshalb liegt der Verbrauch von Gas und Kohle bereits über dem Niveau von 2019. Der weltweite Ölverbrauch hat noch nicht ganz das Vorkriseniveau von 100 Millionen Barrel pro Tag erreicht.

Frühere Preissteigerungen wurden durch erhöhte Förderung begrenzt. Doch weder bei Öl noch bei Gas passiert das heute. Die nicht auf arabische Staaten beschränkte Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) erhöht normalerweise die Quoten, um Marktanteile zu halten, weil Großkunden bei zu hohen Ölpreisen auf Gas umsteigen, doch nun ist Gas noch teurer als Öl. Die OPEC-Staaten laufen also nicht Gefahr, Marktanteile an billigeres Gas zu verlieren. Der saudische Ölkonzern Aramco schätzt, daß die Ölnachfrage durch einen Wechsel vom teuren Gas zu Öl sogar schon um eine halbe Million Barrel pro Tag gestiegen ist.

Bleibt nur noch das Hoffen auf einen milden Winter

Auch das Fracking in Amerika federt Nachfrageschübe nicht mehr ab. Nach 2010 erhöhten Schieferöl und -gas das globale Angebot und verwandelten den Großverbraucher USA vom Importeur zum Öl- und Gasexporteur. 2015 und 2020 vernichteten Preisrückschläge Milliarden-Investitionen – die Frackingbranche setzt auf Rendite: Waren Boni des Managements früher an Produktionsmengen gekoppelt, zahlt sie heute mehr gewinnabhängig. Steigt die Nachfrage, zahlen Fracker höhere Dividenden, fördern aber nicht mehr. Die Fokussierung vieler westlicher Anleger auf „Nachhaltigkeit“ hat zu einem regionalen Investitionsstau geführt. Die Investmentbank JPMorgan Chase schätzt, daß die Förderinvestitionen um neun Prozent pro Jahr bis 2030 steigen müßten, um die gestiegene Nachfrage zu bewältigen. Geplant sind nur vier Prozent.Seit 2014 wird stabil 40 Prozent der Strommenge aus Kohle hergestellt, obwohl neue Kohlekraftwerke in Betrieb genommen wurden. Damit sank die Gewinnmarge der Kraftwerke. Anleger gaben Kohle als wirtschaftlich unrentabel auf. Allein in den USA sanken Förderkapazitäten seit dem Höchststand 2009 um 28 Prozent. Zwar sind global 400 neue Kohlebergwerke geplant, doch es wird bis 2030 dauern, bis die Förderung um 30 Prozent steigen kann. Bis dahin werden Indien und China zusätzliche zehn Prozent der derzeitigen Kohlekraftwerkskapazität in Betrieb nehmen, 16 neue Länder wie Ägypten nehmen erstmals Kohlekraftwerke in Betrieb. In Großbritannien werden stillgelegte Kohlekraftwerke reaktiviert, um einem Blackout vorzubeugen und um das teure Gas nicht zu „verstromen“. Alles deutet auch bei Kohle auf längerfristig höhere Preise.

Mit lockerer Geldpolitik läßt sich der Mangel an Energie nicht beheben. Auch Zinserhöhungen zur Eindämmung der Inflation sind aus zahlreichen Gründen problematisch. Bleibt nur das Hoffen auf einen milden Winter auf der Nordhalbkugel. Die Industriestaaten dürften einen Ölpreis von 120 bis 150 Dollar verkraften sowie auch vergleichbare Gas- und Kohlepreise. Ärmere Länder trifft es härter. In Deutschland gibt es keine Mehrheit für eine Verschiebung des Atomausstiegs, hier verläßt man sich offenbar auf die Kernkraft-Renaissance in einigen EU-Staaten und die Erschließung weiterer Lastabsenkungspotentiale (temporäre Stromabschaltungen bei der Elektrostahl-, Papier- oder Zementherstellung; bei Belüftung, Kühlung).

Auch westliche Großanleger haben Energietitel gemieden, einige sogar mit Leerverkäufen ihre Nachhaltigkeitszahlen verbessert. Doch eine Rotation zu Energieaktien steht nun bevor. Dividendenerhöhungen und Aktienrückkäufe werden das Jahr 2022 bestimmen. Besonders attraktiv sind US-Großkonzerne wegen ihres hohen Cash-flows. Die europäischen Energieriesen haben größere Erneuerbaren-Sparten mit niedriger Bewertung und sollten daher weniger von den hohen Preisen profitieren.

 kohlenstatistik.de

 igu.org

 www.opec.org

Foto: Zapfpistole für Benzin: Die Industriestaaten dürften einen Ölpreis von 120 bis 150 Dollar verkraften, ärmere Länder trifft es härter