© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Selbst die Hochalpen sind kein Hindernis
Reportage Migrationskrise, Teil 4: Die italienisch-französische Alpenpassage wird immer beliebter
Hinrich Rohbohm

Die Nervosität ist ihnen anzumerken. Drei Jungen im geschätzten Alter zwischen 14 oder 15 Jahren. Mutmaßlich Afghanen. Sie stecken die Köpfe zusammen, beraten sich. Immer wieder schauen sie den Bahnsteig von Ventimiglia entlang. Jener italienischen Küstenstadt, die sich nur wenige Kilometer von der französischen Grenze entfernt befindet und die sich zu einem Hotspot für Migranten entwickelt hat. Von hier versuchen sie, nach Frankreich oder weiter nach Großbritannien oder Deutschland zu gelangen.

Der Blick der Jungen geht hinüber zu den kaum 20 Meter entfernt stehenden italienischen Polizisten, die stichprobenartig bei Verdacht auf illegale Migranten die Pässe überprüfen. Schnell gehen sie auf Distanz, wechseln an dem von Menschen überfüllten Gleis ihren Standort, entfernen sich aus dem Sichtbereich der Polizei. Dann fährt der Zug Richtung Cannes ein. Hinüber nach Frankreich. „Nizza?“ radebrechen die Minderjährigen gegenüber  wartenden Passanten, zeigen dabei auf die Anzeigetafel. Die Angesprochen nicken und bestätigen.

Andere Migranten versuchen ihr Glück über die Berge

Langes Warten, bevor sich die Zugtüren öffnen. Die Polizei soll offenbar ihre Kontrollen erst abschließen, bevor die Leute in die Waggons stürmen. Unter anderem überprüfen sie einen Mann, den die JF kurz zuvor noch sprechen konnte. Da war er noch mit einem weiteren Landsmann unterwegs. Jetzt haben sie sich getrennt, warten nun an unterschiedlichen Abschnitten auf den Einstieg in den Zug. Die beiden kommen aus Bangladesch. „Wir wollen nach England“, erklären sie uns noch wenige Minuten zuvor. Später sehen wir, wie die Polizisten einen der Männer in Gewahrsam nimmt, er kann sich nicht ausweisen. Der andere hat Papiere. Welche genau ist für uns nicht zu erkennen, doch die Uniformierten lassen ihn in den Zug.

Die drei minderjährigen mutmaßlichen Afghanen sind mittlerweile eingestiegen, steuern zielstrebig die obere Etage des Waggons an. Vor Abfahrt kontrolliert die italienische Polizei auch noch im Wageninneren. Sie führen einige der Migranten aus dem Zug wieder hinaus. Die minderjährigen Migranten fallen ihnen jedoch ebensowenig auf wie ein uns gegenüber sitzender Syrer, der es ebenfalls über die Grenze nach Frankreich schafft.

Dort, in Garavan, einem Ortsteil der Küstenstadt Menton, durchsuchen französische Grenzschützer die Waggons ein weiteres Mal. Diesmal fällt die Kontrolle noch gründlicher aus. Die drei Minderjährigen haben keine Papiere, müssen raus. Genau wie eine Reihe weiterer Migranten. Einer von ihnen kramt einen Zettel hervor, zeigt ihn den Polizisten. Die aber wollen seinen Paß  sehen. Weil er den nicht vorweisen kann, ist auch für ihn zunächst Endstation. 

Unser syrisches Gegenüber hingegen bleibt unentdeckt, wird nicht kontrolliert. Wir kommen mit ihm ins Gespräch. Auch er will nach Nizza. „Ich habe da Freunde“, sagt er nur. Der Mann aus Bangladesch, den wir zuvor am Bahnsteig getroffen haben, ist ebenfalls noch im Zug. Er wird erneut kontrolliert. Er zückt ein Papier. Ein Paß ist es nicht. Doch er darf weiterfahren.

Handelt es sich bei ihm möglicherweise um einen bereits anerkannten Flüchtling? Der Hintergrund: Hat ein Migrant einen Aufenthaltsstatus erhalten, so genießt er innerhalb der Europäischen Union Freizügigkeit, kann also ohne Probleme  in andere Länder der EU reisen. Und genau da beginnt das Problem. Besonders für Deutschland. In der Bundesrepublik sind die Sozialleistungen hoch, die Auszahlungen verläßlich. Zahlreiche der in Italien mit einem Aufenthaltstitel ausgestatteten Migranten reisen so auf legalem Wege weiter nach Deutschland, um dort zu bleiben und einen neuen Asylantrag zu stellen.

Kurz hinter Monaco erfolgt eine weitere Kontrolle der französischen Polizei. Wieder holen die Grenzschützer Migranten aus dem Zug. Wieder sind es Stichproben. Unser Gegenüber bleibt jedoch erneut unbehelligt, kann seinen Zielort Nizza erreichen.

Seit dem vergangenen Jahr sei die illegale Migration über die italienisch-französische Alpenpassage und über Ventimiglia massiv gestiegen. „Seit der Ankündigung der USA, sich aus Afghanistan zurückzuziehen“, erzählen Einheimische sowohl auf italienischer als auch auf französischer Seite. Statt Schwarzafrikaner kämen nun zunehmend Leute aus Afghanistan. Darauf deuten auch Angaben der französischen Präfektur Hautes-Alpes, wonach die Zahl festgenommener illegaler Migranten in diesem Jahr deutlich angestiegen sei. Fast 40 Prozent der Aufgegriffenen seien nun Afghanen, elf Prozent Iraner und neun Prozent Marokkaner. Nicht selten erhalten sie Hilfe durch „Aktivisten“ , die sie mit Kleidung, Gebirgsausrüstung und bei der Wegführung im italienisch-französischen Grenzgebiet unterstützen.

In diesem Sommer hatten linksradikale „Aktivisten“ der Gruppe „Chez JesOulx – Rifugio Autogestito“ in dem italienischen Grenzort Claviere ein ehemaliges Zollhaus besetzt, um Migranten bei ihrem Weg über die Grenze nach Frankreich zu „helfen“. Eine Woche lang hielten sie das Gebäude besetzt, ehe die italienische Polizei es räumte. Im Gebäude trafen die Sicherheitskräfte auf sieben Migranten, darüber hinaus auf 40 „Aktivisten“ aus Italien, Frankreich, Belgien und Deutschland.

Zudem unterstützt die von einem Priester in der Grenzstadt Oulx (Höhe 1.100 Meter) gegründete Hilfsorganisation Talita Kum Migranten in einer dort befindlichen Schutzhütte, indem sie ihnen vor der Überquerung der Alpen Richtung Frankreich Essen und Schlafplätze anbietet. Ähnliches erfolgt in der Region durch zahlreiche weitere Helfer. 

Aktivisten einer solidarischen Welt geben Bettlerseminare

Manche handeln aus rein humanitären Motiven, bei anderen ist es eine politische Mission, die zudem im Verdacht steht, Migranten über die Grenze zu schleusen. Seit Beginn des Sommers verzeichnet Oulx nach Angaben der La Repubblica einen Zustrom von mindestens 60 bis 70 illegalen Migranten täglich.

Eine besonders dreiste Form der „Hilfe“ für Migranten durch „Aktivisten“ erfolgt auch unweit der italienisch-österreichischen Grenze, im Südtiroler Ort Brixen. Dort betreiben die Sozialgenossenschaften „Haus der Solidarität“ und „Organisation für eine solidarische Welt“ eine sogenannte Bettler-Akademie. Das Ziel: Migranten zu befähigen, cleverer beim Betteln vorzugehen, indem man sie mit gesetzlichen Regeln in bezug auf Almosen vertraut macht. Abgehalten werden diese Seminare übrigens im Foyer der Freien Universität Bozen. Finanziert aus öffentlichen Mitteln.

Ein in Italien besonders prominenter wie zweifelhafter Helfer ist vor wenigen Wochen wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung, Erpressung, Unterschlagung, Verschwörung sowie Amtsmißbrauch verurteilt worden: der ehemalige Bürgermeister des süditalienischen Dorfes Riace in Kalabrien, Domenico Lucano. Der 63jährige Menschenrechtsaktivist war in den vergangenen Jahren von Politik und Medien weltweit für seine Einwanderungspolitik gelobt worden. Als Bürgermeister hatte er Hunderte Migranten in seinem unter Bevölkerungsrückgang leidenden Dorf angesiedelt, gab ihnen Jobs, indem er ihnen eine Anstellung in seiner Kommunalverwaltung verschaffte.

Politik und Medien überschütteten Lucano mit Ehrungen. Das Fortune-Magazin wollte in ihm sogar einen der einflußreichsten Politiker sehen, die Stadt Dresden verlieh ihm den internationalen Friedenspreis. Die Politik bejubelte das als Riace-Modell bekannt gewordene Projekt, finanzierte es sogar durch EU-Mittel. Dann wird bekannt: Lucano soll Scheinehen zwischen Italienern und Migranten organisiert haben, hauptsächlich zwischen einheimischen Männern und ausländischen Frauen, um letzteren einen dauerhaften Aufenthalt in der EU zu sichern. Hinzu kommen Unregelmäßigkeiten bei der Visumvergabe für Migranten. Lucano bestreitet die Vorwürfe, geht in Berufung. Die ebenfalls umstrittene „Hilfsorganisation“ Sea Watch solidarisiert sich mit ihm. Übrigens: Neben einer langen Haftstrafe brummte das zuständige Gericht dem prominenten Ex-Bürgermeister die Rückzahlung von 500.000 Euro an kassierten EU-Mitteln auf.

Foto: Bahnhof von Ventimigla in der Grenzregion zu Frankreich: Punktuelle Kontrollen der Reisenden für den Regionalzug nach Nizza