© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Jens Spahn, die Ungeimpften und die Lizenz zur Freiheitsausübung
2G wie Grundgesetz
Dietrich Murswiek

Eines der Fundamente jedes freiheitlichen Gemeinwesens ist das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip: Die individuelle Freiheit ist prinzipiell unbegrenzt, die staatliche Macht ist prinzipiell begrenzt. Der Staat darf aus Gründen des Gemeinwohls die Freiheit einschränken, aber er muß jede Freiheitseinschränkung rechtfertigen. Er muß darlegen und beweisen, daß die Freiheitseinschränkung zur Verwirklichung eines verfassungsmäßigen Gemeinwohlzwecks erforderlich ist. Der Staat muß sich für seine Machtausübung rechtfertigen, nicht der einzelne für seine Freiheitsausübung.

Dieses rechtsstaatliche Freiheitsprinzip wurde von der Corona-Politik auf den Kopf gestellt. In den diversen Lockdowns hat der Staat die Grundrechte flächendeckend so sehr eingeschränkt, daß von der Freiheit für viele – etwa von der Berufsfreiheit von Einzelhändlern, Musikern oder Gastwirten – fast nichts mehr übrigblieb. Statt diesen Ausnahmezustand so schnell wie möglich zu beenden, versucht ihn die Politik in einen neuartigen Normalzustand zu transferieren. Dazu teilt sie die Menschen in zwei Klassen ein: Die Geimpften und „Genesenen“ (gemeint sind Menschen, die mal im PCR-Test positiv waren, auch wenn sie nicht an Covid-19 erkrankt sind) haben Rechte, die die Ungeimpften nicht haben. Der Staat gibt ihnen einen Sonderstatus, der sie von den Corona-Einschränkungen befreit. Die Ungeimpften hingegen müssen erst beweisen, daß sie ungefährlich sind, bevor sie ihre Freiheit wahrnehmen dürfen. Und im 2G-Modell müssen sie ganz draußen bleiben.

Dieses neuartige Freiheitsverständnis hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn so formuliert: „Wir haben die Mittel in der Hand, uns zurück in die Freiheit zu impfen.“ Der Staat nimmt die Freiheit; er gibt sie gegen Impfung zurück. Der Ausnahmezustand wurde nur scheinbar beendet. Nur die Geimpften erhalten vorerst die staatliche Lizenz zur Freiheitsausübung. Bei „Genesenen“ läuft die Lizenz nach sechs Monaten ab, weil sie dann nach Auffassung des Staates keinen hinreichenden Immunschutz mehr hätten. Man will auch sie in die Impfung drängen, obwohl die natürliche Immunität besser und länger wirksam ist als die durch Impfung erzeugte. In Israel läuft die Grüne Karte, mit der Geimpfte Zugang zum öffentlichen Leben haben, jetzt nach sechs Monaten ab – sie brauchen für eine Verlängerung eine neue Impfung. Auch für die Geimpften in Deutschland könnte es sich noch als Illusion erweisen, daß sie – wie Politiker zu formulieren pflegen – „ihre Freiheit zurückerhalten“ haben.

Die Rechtsfragen, die diese Politik aufwirft, habe ich in einem Gutachten untersucht. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß sämtliche 2G- und 3G-Regeln, insbesondere 3G mit kostenpflichtigem Test, die Benachteiligung bei Quarantänepflichten sowie das Vorenthalten der Verdienstausfallentschädigung für Ungeimpfte mit dem Grundgesetz unvereinbar sind; sie verletzen die Grundrechte der Betroffenen. Alle Benachteiligungen Ungeimpfter müssen sofort aufgehoben werden.

Die neuen Corona-Regeln begründen zwei unterschiedliche Rechtsregime – eins für Geimpfte (und „Genesene“), eins für Ungeimpfte. Das Gutachten untersucht diese Regeln in drei Stufen: 1. Lassen sich Beschränkungen des Zugangs zum öffentlichen Leben überhaupt noch pandemiepolitisch rechtfertigen? 2. Läßt sich die Ungleichbehandlung Geimpfter und Ungeimpfter rechtfertigen? 3. Läßt sich der staatlich erzeugte Druck auf die Ungeimpften, sich impfen zu lassen, rechtfertigen? Die Antwort, zu der ich komme, lautet jedesmal nein.

Mit der 2G-Regel werden Ungeimpfte vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Mit der 3G-Regel, verbunden mit dem Wegfall der Kostenfreiheit für die Schnelltests, die Voraussetzung für das Essen im Restaurant, den Kino- oder Museumsbesuch, die Teilnahme an Konzerten oder Fußballspielen sind, wird ihnen die Teilnahme am öffentlichen Leben so sehr erschwert, daß sie faktisch weitgehend draußen bleiben müssen.

Diese Freiheitseinschränkungen verletzen das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit und weitere Grundrechte. Das offizielle Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Covid-19-Epidemie einzudämmen, um eine Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden. Zu diesem Zweck sind die 2G- und 3G-Regeln aber schon deshalb nicht erforderlich, weil – wie das Gutachten darlegt – eine Gefahr für die Überlastung der Intensivstationen nicht besteht. Selbst auf den höchsten Wellen der Epidemie gab es auch nicht annähernd eine systemische Überlastung. Statt dessen wurden Tausende von Intensivbetten abgebaut, statt ihre Zahl zu erhöhen. Und jetzt ist das Risiko einer Überlastung drastisch gesunken, weil ja die Menschen mit dem größten Risiko eines schwerwiegenden Krankheitsverlaufs zu über 90 Prozent geimpft sind.

Soweit der Staat die 2G- und 3G-Regeln damit rechtfertigen will, daß sie der Minimierung der schweren Krankheitsverläufe und Todesfälle dienten, geht es nicht um Gefahrenabwehr, sondern um Optimierung des Gesundheitsschutzes im Sinne einer Risikovorsorge. Zu diesem Zweck darf nicht die Freiheit von Menschen eingeschränkt werden, die für diese Risiken nicht verantwortlich sind. Die Freiheit ist dem einzelnen nach dem Grundgesetz kraft seiner Menschenwürde garantiert. Er erhält sie nicht erst dann von der Obrigkeit zugeteilt, wenn er beweisen kann, daß er vom Staat definierte Kriterien für seine Ungefährlichkeit erfüllt.

In ganz besonderem Maße unverhältnismäßig sind die mit den 2G- und 3G-Regeln bewirkten Freiheitseinschränkungen im übrigen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Denn in diesen Altersgruppen führt die Infektion mit Sars-CoV-2 fast nie beziehungsweise sehr selten zur Erforderlichkeit einer Intensivbehandlung. Diese Altersgruppen vom Zugang zum öffentlichen Leben auszuschließen oder ihnen den Zugang durch kostenpflichtige Tests zu erschweren, trägt zur Vermeidung einer Überlastung der Intensivstationen praktisch nichts bei.

Das Gutachten legt weiterhin dar, daß die Ungleichbehandlung der Geimpften und der Ungeimpften nicht zu rechtfertigen sei und daher gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 1) verstoße. Die 2G- und 3G-Regeln sowie die Nichtanwendung der für Reise­rückkehrer und Kontaktpersonen geltenden Quarantänevorschriften auf Geimpfte beruht auf der Vorstellung, daß die Geimpften immun seien und sich nicht mehr mit Sars-CoV-2 infizieren und andere Menschen nicht mehr anstecken könnten. Etliche Studien haben aber erwiesen, daß die Impfung nur sehr unvollständig vor Ansteckung schützt und daß der anfangs gegebene unvollständige Übertragungsschutz nach wenigen Monaten nachläßt und schon nach vier Monaten praktisch nicht mehr vorhanden ist. Zur Veranschaulichung: Eine 2G-Party in Münster, an der nur Geimpfte und „Genesene“ teilnahmen, wurde zum Superspreader-Event mit über 80 Infizierten von 380 Teilnehmern.

Mittels der Benachteiligung der Ungeimpften wird ein starker Druck auf die Ungeimpften ausgeübt, sich impfen zu lassen. Dieser Druck wirkt als indirekter Impfzwang. Der staatlich erzeugte Impfdruck ist verfassungsrechtlich als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht über die körperliche Unversehrtheit sowie als Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) einzustufen. Auch dieser Eingriff läßt sich weder mit dem Ziel, eine Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden, noch mit dem Ziel, die Zahl der schweren Krankheitsverläufe zu minimieren, rechtfertigen.

Der indirekte Impfzwang ist vor allem deshalb unverhältnismäßig, weil er das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen bezüglich ihrer körperlichen Integrität äußerst schwerwiegend einschränkt und ihnen schwerwiegende Lebens- und Gesundheitsrisiken auferlegt. Zu ihrem eigenen Schutz vor Covid-19 darf der Staat die Menschen nicht zwingen. Zum Schutz anderer bedarf es grundsätzlich keines Impfzwangs, weil die Geimpften ja bereits durch die Impfung geschützt sind.

Hinzu kommt, daß denkbare Langzeitrisiken der neuartigen Covid-19-Vakzine noch gar nicht systematisch ermittelt werden konnten. Die massenhaften Impfungen haben insofern den Charakter eines riesigen Humanexperiments. Eine direkte Covid-19-Impfpflicht verstieße deshalb gegen die Menschenwürdegarantie (Artikel 1 Absatz 1 GG). Aber auch indirekt darf die Teilnahme an einem medizinischen Menschenversuch nicht erzwungen werden.

Die Vorenthaltung der Verdienstausfallentschädigung für quarantänepflichtige Ungeimpfte verstärkt das Gewicht der Freiheitseinschränkungen bei der Abwägung noch erheblich. Mit dieser Maßnahme setzt der Staat in besonders deutlicher und zynischer Weise die Impfung als „Tor zur Freiheit“ ein. Der Staat beraubt Menschen, die gesund und nicht infektiös sind, ihrer Freiheit – weil sie nicht geimpft sind. Ginge es um den Ausschluß jedes Infektionsrisikos, müßten die Quarantänepflichten auch für Geimpfte gelten. Der Staat will mit dieser Regelung offenbar die Impfung durchsetzen. Der einzelne ist nicht mehr kraft seiner Menschenwürde frei, sondern er ist frei, weil er sich einem staatlichen Ansinnen unterwirft, dem Ansinnen, sich impfen zu lassen. Das steht in diametralem Gegensatz zum Freiheitskonzept des Grundgesetzes.






Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Jahrgang 1948, ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg. Das Gutachten kann auf der Internetseite der Initiative freie Impfentscheidung e. V. abgerufen werden:

 https://impfentscheidung.online

Foto: Zutrittsbeschränkende 2G-Hinweise an Veranstaltungsorten: Der Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek hält es für verfassungsrechtlich geboten, alle Benachteiligungen Ungeimpfter sofort aufzuheben