© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

„Sie werden sich niemals ergeben“
Der Abzug der USA aus Afghanistan signalisiert eine weltpolitische Wachablösung
Dirk Glaser

Aus seiner in 35 Berufsjahren als Journalist und Wissenschaftler aufgespeicherten Afghanistan-Expertise leitet Anatol Lieven einen feuerfesten Ratschlag für westliche Verfechter der Strategie des „Regimewechsels“ ab: Die in diesem Sommer an die Macht in Kabul zurückgekehrten Taliban werden ihrer konservativen, ländlichen, islamisch-paschtunischen Kultur treu bleiben – „und sie werden sich niemals ergeben“ (Lettre International, 134/2021).

Jeder weitere Anlauf einer fremden Macht, ihr Leben den Normen säkularer „Zivilgesellschaften“ zu unterwerfen, führe schnurgerade in ein ähnliches Desaster wie das gerade unrühmlich abgeschlossene Kapitel zwanzigjähriger Besetzung der spröden Region am Hindukusch durch eine von den USA geführte Militärallianz, die dort den „Krieg gegen den Terror“ gewinnen wollte.

Für den britischen Politikanalytiker Lieven, der in den 1980ern als Journalist erste Erfahrungen mit den damals gegen sowjetische Invasoren kämpfenden Bergvölkern sammelte und der heute „Geschichte des dschihadistischen Denkens und der dschihadistischen Kultur“ an der Georgetown-Universität von Katar lehrt, hätte 2001 schon ein Schnellkurs in afghanischer Geschichte genügt, um die Washingtoner „Kreuzfahrer“ und ihre Verbündeten von diesem Abenteuer abzuhalten. Traf doch auf Afghanistan nie zu, was nach Max Webers klassischer Definition als Staat zu bezeichnen ist: „Eine menschliche Gemeinschaft, die erfolgreich das Monopol der legitimen Anwendung physischer Gewalt innerhalb eines bestimmten Territoriums beansprucht.“ Ein Gewaltmonopol hätten nicht einmal die Taliban während ihrer ersten Herrschaftsperiode zwischen 1996 und 2001 besessen. Also fehlten hinreichende Strukturen für das surreale Projekt, von Kabul aus einen „demokratischen Nationalstaat“ westlichen Zuschnitts zu formen.

Was die bewaffneten Missionare der Geschlechtergerechtigkeit stattdessen vorfanden, war eine archaisch geprägte „geordnete Anarchie“ paschtunischer Stämme, die von jeher auf zentralstaatliche Zumutungen mit Aufständen reagierten. Abgesehen von der Pflicht, das Volk gegen äußere Feinde zu verteidigen, besteht nach ihrem Gusto die Aufgabe eines möglichst „schlanken Staates“ darin, notorische Stammesstreitigkeiten zu schlichten. Angesichts traditioneller Allgegenwart von Waffen in der paschtunischen Gesellschaft sowie deren „kultureller Besessenheit von Ehre und Prestige“ sei der Wert staatlicher Streitbeilegung zwar hoch zu veranschlagen, aber mit ihrer strikten Ablehnung darüber hinausgreifender Einmischungen hätten sich die Paschtunen den Weg zum „modernisierenden Staat“ selbst versperrt. 

Ein solcher Staat muß Steuern erheben, um die „Entwicklung“ fort von mittelalterlichen Verhältnissen zu finanzieren. Etwa durch den Ausbau eines flächendeckenden Schulsystems. Da die Bergvölker damit langfristig die Auflösung ihrer eigenen islamisch-bildungsfeindlichen Kultur bezahlt hätten, ließen sich Steuern bei diesen „Meistern der Kunst, nicht regiert zu werden“, auch während der 1920er und seit den späten 1940er Jahren bis hin zum Abzug der Sowjets, als sich in Kabul jeweils „Modernisierungsregime“ etabliert hatten, nur mit Hilfe der Armee eintreiben. Die Geschichte dieses nie gebrochenen Widerstands gegen zentralistische Verwaltung bezeuge „die grundlegende Unvereinbarkeit von staatlicher Autorität und paschtunischer Stammestradition“. Das erklärt für Lieven auch „das komplette Fehlen“ elementarer staatlicher Institutionen und Dienstleistungen, das ihn bereits bei Besuchen in den von der Sowjetarmee befreiten paschtunischen Landesteilen verblüfft habe.

One-World-Arroganz gegenüber  afghanischem Antimodernismus

Die Unfähigkeit, diese historisch gewachsene Entfremdung der Afghanen im allgemeinen und der Paschtunen im besonderen von „ihrem“ Staat zu verstehen, ist für Lieven der „Schlüssel zum Scheitern des Westens beim Aufbau einer neuen Ordnung“ in dieser weltpolitischen Gewitterzone. Und der wurzeltiefe autochthone Anti-Etatismus entlade erst recht dann sein enormes Gewaltpotential, wenn „ungläubige Eindringlinge“ dessen Energien gegen die Fremdherrschaft entfesseln. Jedem Paschtunen sei von der Wiege an beigebracht worden, „Widerstand gegen die Fremdherrschaft ist ein Teil dessen, was es heißt, Paschtune zu sein.“

Für den Asien-Spezialisten Alfred W. McCoy (University of Wisconsin) geht das Versagen der westlichen Eliten noch weit hinaus über die von Lieven diagnostizierte One-World-Arroganz gegenüber historisch-soziokulturellen Determinanten des afghanischen Antimodernismus. Für den „Zusammenbruch von Kabul“ sei geradezu ein Rattenkönig von Dummheit und Blindheit verantwortlich, so wie er sich 2015 in einer Aussage des Generals Douglas Lute, der die Afghanistan-Kriegspolitik unter den Präsidenten Bush und Obama koordinierte, verdichtete: „Uns fehlte ein grundlegendes Verständnis von Afghanistan – wir wußten nicht, was wir taten.“ 

Dieser für ihn schier unfaßbare Dilettantismus in den Führungszirkeln einer Weltmacht wohnte der von Jimmy Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, dem vermeintlichen „Meister der Geopolitik“, konzipierten US-Politik in Mittelasien von Anfang an inne. Darum, wie Douglas Lute resigniert einräumte, sei halt vieles „schiefgelaufen“. Etwa der von der CIA via Pakistan gelenkte geheime Krieg gegen die Sowjets. Der sei mit Gewinnen aus dem Export von Opium finanziert worden, das die Paschtunen-Guerilla auf Feldern im südlichen Afghanistan anbaute. Was die Zahl Heroinsüchtiger in Europa und den USA explodieren ließ. Gleichzeitig durfte der unverzichtbare Alliierte Pakistan spaltbares Material für eine eigene Atombombe häufen. Islamabads erster Atomtest habe dann 1997 nicht nur in Indien „Schockwellen“ ausgelöst. Solche Friktionen häuften sich, als die CIA 2001 ihre alte Koalition paschtunischer Warlords in den Kampf gegen paschtunische Taliban einspannte. Die ihr jedoch aus dem Ruder liefen, als sie bis 2007 die Opiumproduktion auf schwindelerregende 8.200 Tonnen steigerten. Das waren 93 Prozent des illegalen Heroins auf dem Weltmarkt, und die Gewinne daraus füllten auch die Kassen der wiedererstarkenden Taliban. Ein sieben Milliarden teurer, von Bush begonnener, von Obama eingestellter „Anti-Drogenkrieg“ verpuffte ohne Effekt.  

Unvermeidbare Folge dieser Chaos-Politik sei es gewesen, daß Washington „an die letzten Grenzen dessen gestoßen ist, was selbst das mächtigste Militär der Welt bewirken kann“. Der überstürzte Abzug im August signalisiere daher Verbündeten und Feinden, daß die USA keine Hoffnung mehr hätten, die Welt nach ihren Wünschen zu ordnen, „und daß ihre einst überwältigende globale Hegemonie wirklich schwindet“.

Die Ablösung steht bereit. Während die USA seit 2001 eine Billion Dollar im bodenlosen Faß am Hindukusch versenkten, gab Peking die gleiche Summe für sein transkontinentales Netz der „Neuen Seidenstraße“ aus, das den rohstoffreichen Taliban-Staat nun fest umklammert. China werde dieser neue Dreh- und Angelpunkt seiner geopolitischen Dominanz über die eurasische Landmasse wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. Zudem stünden die Chancen dafür nicht schlecht, daß sich mit dem von Pekinger Atheisten induzierten afghanischen Wirtschaftswunder die Taliban weniger der Verteidigung des Islam als den kommenden Geschäften mit China widmen. Insoweit wäre hinter Lievens Vertrauen auf den unerschütterlichen Konservatismus der Paschtunen ein Fragezeichen zu setzen. 


 www.lettre.de