© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Als Stalin das Mausoleum räumen mußte
Im Oktober 1961 erreichte Nikita Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag der KPdSU den Höhepunkt seiner Macht
Jürgen W. Schmidt

Das Jahr 1961 schien sowohl außen- wie innenpolitisch ein Erfolgsjahr für den sowjetischen Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow und seinen persönlichen Kurs der verstärkten, auch weltweiten, Entwicklung des Sozialismus zu werden. Am 6. Januar 1961 konstatierte Chruschtschow in einer Rede, die Sowjetunion habe nunmehr in der atomaren Rüstung mit den USA gleichgezogen. Der „Strategie des Friedens“ des Ende 1960 frisch gewählten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy stellte Chruschtschow seine eigene „Koexistenzpolitik“ beider Weltmächte entgegen. Weil die Sowjetunion nach erheblichen Anstrengungen endlich über erste einsatzfähige Interkontinentalraketen vom Typ R-7 verfügte und bei der Schaffung einer Wasserstoffbombe, letztlich gipfelnd in der erfolgreichen Erprobung der „Zar-Bombe“ mit 50 Megatonnen Sprengkraft am 30. Oktober 1961 auf Nowaja Semlja, Riesenfortschritte machte, hielt Chruschtschow eine energische antisowjetische Politik des jungen, außenpolitisch noch unerprobten US-Präsidenten für unmöglich. 

Der Anbruch des Kommunismus wurde auf 1980 terminiert

Auf einem persönlichen Treffen in Wien am 3. und 4. Juni 1961 gab sich Chruschtschow väterlich-überlegen und bedeutete Präsident Kennedy: „Ich habe gehört, Sie seien ein junger und vielversprechender Mann!“ Chruschtschow glaubte vor allem deshalb an Kennedys „Schwäche“, weil dieser nicht mehr wie sein Vorgänger Dwight D. Eisenhower und Außenminister John Foster Dulles die Sowjetunion politisch und militärisch „einkreisen“, sondern im Gegenteil das bestehende geostrategische Gleichgewicht beider Mächte nicht antasten und durch Schaffung von „neutralen Zonen“ konsolidieren wollte. Wegen dieser vermeintlichen politischen Schwäche der USA ermunterte übrigens Chruschtschow den DDR-Partei- und Staatschef Walter Ulbricht, am 13. August 1961 das Abenteuer des Mauerbaus um West-Berlin zu wagen und anschließend, gestützt auf die Macht der Sowjetunion, alle westlichen Drohungen auszusitzen. 

Zudem war nach dem ersten bemannten Weltraumflug von Juri Gagarin am 12. April 1961, dem schon am 6. August 1961 ein zweitägiger Weltraumflug von German Titow folgte, das Prestige der Sowjetunion weltweit so hoch wie nie vorher. Daß sich das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und China aus vielerlei Gründen massiv zuspitzte, wurde hingegen kaum beachtet. Immerhin brach die Sowjetunion am 26. April 1961 mit dem die chinesische Karte ausspielenden Warschauer-Pakt-Staat Albanien und zog bis Ende Mai 1961 alle Berater, Truppen und Marineeinheiten aus Albanien zurück. Auch im Innern der Sowjetunion war nicht alles Gold, was glänzte. Chruschtschow mußte die seit Stalin dominierende Ausrichtung der Volkswirtschaft auf die Schwerindustrie korrigieren und die Produktion in der Konsumgüterindustrie und in der Landwirtschaft massiv fördern. Es regte sich zudem in Teilen des Parteiestablishments eine schweigende Kritik am Kurs der Entstalinisierung seit 1956. Chruschtschow konterte diese Entwicklung mit dem Entwurf eines neuen Parteistatuts am 5. August 1961 in der Parteizeitung Prawda. 

In dieser brisanten Situation fand vom 17. bis 31. Oktober 1961 im Moskauer Kreml der mit Spannung erwartete XXII. Parteitag der KPdSU statt. Daran nahmen knapp 5.000 Delegierte sowie Abordnungen von 80 ausländischen kommunistischen Parteien teil. Den Bericht des ZK der KPdSU erstattete natürlich Nikita Chruschtschow persönlich. Zu Ende des Parteitages wurde im Gefolge der in der Sowjetunion laufenden „Entstalinisierung“ der einbalsamierte Körper Stalins aus dem Lenin-Mausoleum entfernt und an der Kreml-Mauer beigesetzt. Der Parteitag beschloß weitere Maßnahmen zur Entstalinisierung, was die Machtposition Chruschtschows gegenüber den Altstalinisten in der Partei stärkte. 

Ebenso aufmerksam registrierten die Delegierten die am 30. Oktober 1961 erfolgte Erprobung der bis dato weltweit stärksten Kernfusionswaffe, was dem wirksamen Abschrecken der USA und ihrer Verbündeten dienen sollte. Innenpolitisch war das neue Parteiprogramm der KPdSU, welches zusammen mit dem neuen Parteistatut auf dem XXII. Parteitag angenommen wurde, von hoher Bedeutung. Darin stand nämlich der bedeutungsvolle Satz: „Die Partei verkündet feierlich: Diese Generation wird im Kommunismus leben.“ Der Anbruch des Kommunismus wurde auf 1980 terminiert. Ihm sollten zweistufige Aufbauprogramme in der Wirtschaft, zuerst „Mechanisation“, danach „Automatisation“, vorangehen. Wie man mit ideologischen Abweichlern umging, zeigte das Beispiel der heftig verurteilten KP Albaniens, die jedoch vom anwesenden chinesischen KP-Delegationsleiter Tschou-en-Lai ebenso heftig verteidigt wurde 

Formell gesehen stand Nikita Chruschtschow im Oktober 1961 im Zenit seines Ruhmes als Partei- und Staatsführer. Doch es deutete sich bereits damals die Zuspitzung des Verhältnisses zu den USA und zu China an. Ersteres gipfelte im Jahr darauf in der Kubakrise und führte die Welt an den Rand eines Nuklearkrieges. Der Bruch mit China war letztlich gleichfalls unabwendbar, wenngleich sich die in der Breschnew-Zeit abspielenden militärischen Auseinandersetzungen im konventionellen Rahmen hielten und als „Grenzkonflikte“, nicht etwa als „Krieg“, bezeichnet wurden. Chruschtschow in seiner Siegerpose übersah allerdings 1961, wie heftig es intern in der Parteiführung grummelte. Bereits drei Jahre nach jenem für ihn so erfolgreich verlaufenen Parteitag wurde er gestürzt und durch sein politisches Ziehkind Leonid Breschnew ersetzt.

Foto: Nikita Chruschtschow mit dem Kosmonauten Juri Gagarin 1961: Das geostrategische Gleichgewicht zu den USA war kaum mehr in Frage zu stellen