© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Noch mehr Öl ins Feuer
Vor fünfzig Jahren gründete sich das Northern Resistance Movement, um mit einem Zahlungsstreik gegen die Benachteiligung der Katholiken in Nordirland zu protestieren
Marcel Waschek

Was im Januar 1969 als friedliche Demonstration für Bürgerrechte und Gleichbehandlung begonnen hatte, stand unter keinem guten Stern. Die beiden größten nordirischen Bürgerrechtsbewegungen, das Derry Citizens’ Action Committee und die Northern Irish Civil Rights Association, hatten sich gegen den Marsch ausgesprochen, und nun drohte die Lage völlig zu eskalieren. Immer wieder war der Marsch, der von Belfast nach Derry/Londonderry führte, durch tätliche Angriffe fanatischer Gegener aufgemischt worden. Doch an der Burntollet-Brücke nahe Derry/Londonderry endete der Zug. Über 300 unionistische Gegendemonstranten bewarfen die Bürgerrechtler mit Steinen und gingen mit Eisenstangen und Holzlatten zum Angriff über. Die Teilnehmer des Marsches, die von der Gewalt und dem Nichteingreifen der Polizei schockiert waren, flüchteten teils in das östlich des Flusses Foyle gelegene katholische Viertel Bogside. Zorn erregte auch, daß die Katholiken höhnisch von Mitgliedern der protestantischen Apprentice Boys mit Pennys beworfen wurden. 

Nachdem es noch in den 1950ern zu gewalttätigen Aktionen der Irish Republican Army an der Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Gebiet im Nordosten der Insel gekommen war, war die Gewalt zwischen beiden ethnisch-religiösen Gruppen abgeflacht. Breite Bürgerbündnisse versuchten nach dem Vorbild der Bürgerrechtsbewegung in den USA gewaltfrei für eine sozial gerechtere Gesellschaft einzutreten. Dabei waren ausdrücklich Katholiken und Protestanten, ethnische Iren und Briten angesprochen, da die neue Bewegung versuchte, statt des ethnisch-religösen die soziale Frage in den Vordergrund zu rücken. 

Doch besonders die Katholiken schlossen sich den Protesten an, da sie in Nordirland in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg am meisten benachteiligt waren. Die wirtschaftliche Situation Nordirlands verschlimmerte sich zusehends. Besonders die in schlecht bezahlten Berufen tätigen irisch-katholischen Arbeiter hatten darunter zu leiden. Nordirische Protestanten, welche sich für gewöhnlich als britisch verstanden, waren sozial in der Regel bessergestellt. Die Protestanten genossen zudem Vorteile bei den Wahlen, da die Wahlkreise besonders auf ihre Wohnbezirke zugeschnitten waren. Durch das Mehrheitswahlrecht waren somit die unionistischen Protestanten weit über ihren verhältnismäßigen Stimmanteil begünstigt. Zudem war das Wahlrecht an den Besitz von Wohnraum gekoppelt, was wiederum zum Nachteil der zumeist zur Miete lebenden Katholiken ausfiel. Protestanten waren überproportional in akademischen Berufen vertreten und stellten den Großteil der Royal Ulster Constabulary, der Polizei Nordirlands, sowie der Regierungs- und Verwaltungsorgane des Landesteils.

Durch die Zunahme der Gewalt und vor dem Hintergrund der seit August 1971 stattfindenden Internierungen von politischen Aktivisten, zumeist Katholiken, war die Stimmung angeheizt. Daher entschlossen sich Aktivisten, zumeist aus der irisch- linksnationalistischen Partei Sinn Féin, sowie der bis dahin ethnisch-religiös eher egalitären, aus der Bürgerrechtsbewegung stammenden Gruppe People’s Democracy am 17. Oktober 1971 das Northern Resistance Movement zu gründen. Ziel dieser Bewegung war ein Zahlungsstreik, welcher Abtragszahlungen, Mieten und Abgaben an die Gemeinde-Regierungen Nordirlands aussetzte. Über 40.000 Haushalte, in den allermeisten Fällen Katholiken, schlossen sich der Streikaufforderung an.

Klassenkämpferische Ausrichtung wurde ethnisch-religiös überlagert

Gründungsmitglieder waren unter anderem Frank McManus, ein irischer Nationalist und Politiker eines irisch-nationalistischen Bündnisses, Bernadette Devlin McAliskey, eine sozialistische irisch-nationalistische Politikerin, die 1981 von protestantisch-unionistischen Ulster Freedom Fighters getötet wurde, Fergus O’Hare, ein irisch-nationalistischer Aktivist, der sich für die Rechte gefangener irisch-katholischer Aktivisten und den Erhalt der irischen Kultur und Sprache einsetzte, Michael Farrell, ein Schriftsteller und vorheriger Anführer der People’s Democracy, sowie Miriam Daly, eine Universitätsdozentin und irisch-national Liberale, welche 1980 von der protestantischen Bürgerwehr Ulster Defence Association getötet wurde.

Ein unmittelbares Ergebnis des Zahlungsstreiks derart vieler Haushalte waren die Zahlungs- und Handlungsunfähigkeit der betroffenen Gemeinden, da diese nicht mehr über genug Finanzmittel verfügten, um ihren Aufgaben der allgemeinen Daseinsvorsorge nachzukommen. Die Regierung  wiederum versuchte das Problem dadurch zu lösen, daß die ausstehenden Zahlungen der Streikenden durch Abzüge von staatlichen Leistungen gedeckt wurden. Darüber hinaus sahen sich viele nord-

irische Geschäftsleute, welche meist protestantisch waren, nicht von den Streikenden vertreten und zogen sich aus den Bürgerbewegungen zurück. Zudem empfand ein Großteil der Protestanten den Streik als weiteren Schritt im konfessionellen Konflikt. Infolgedessen wandelte sich die anfangs noch klassenkämpferische Ausrichtung zu einem immer mehr ethnisch-religiösen Konflikt.

Auch die ungeschickte Politik aus London und Belfast, um der Unruhen Herr zu werden, vergrößerte die Gräben. Die während der Kämpfe um die Bogside 1969 nach Nordirland entsendete britischen Armee wurde anfangs selbst von den Katholiken als unparteiisch wahrgenommen. Doch brutale Razzien, zumeist nach Waffen, die Inhaftierung vor allem irisch-katholischer Aktivisten sowie die demonstativ zur Schau gestellte Präsenz im öffentlichen Raum vergrößerte die Abneigung und führte dazu, daß die Soldaten als bewaffneter Arm der britischen „Besatzungsmacht“ angesehen wurden. Als am 30. Januar 1972 Northern Ireland Civil Rights Association und Northern Resistance Movement einen unbewaffneten Protestmarsch durch die katholische Bogside von Derry organisierten, der eine zunehmend deutliche pro-irisch-republikanische und anti-britische Positionierung offenbarte, eskalierte die Lage völlig. Der „Bloody Sunday“, bei dem britische Fallschirmjäger in die Menge feuerten, 14 Demonstranten töteten und viele weitere verletzten, wurde zum Fanal und prägte für fast 25 Jahre den von Terror und Gegenterror geprägten Kampf zwischen den katholisch-irischen Republikanern und den protestantisch-britischen Ulster-Loyalisten in Nordirland. 

Foto: Eine Gruppe irischer Kinder bewirft ein Panzerfahrzeug der britischen Armee mit Steinen, Armagh 1972: Die britische Armee wurde von den katholischen Nordiren zunehmend als Besatzungsmacht wahrgenommen