© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Mit Bologna kam der späte Sieg
1971 wurde in Kassel die erste Gesamthochschule gegründet
Michael Dienstbier

Die sechziger Jahre sahen den Beginn der erbitterten bildungspolitischen Kämpfe, die letztlich bis heute andauern. Das dreigliedrige Schulsystem wurde von der politischen Linken als unsozial diskreditiert, die Gesamtschule als eine Schule für alle – ohne „Selektion“ nach Klasse 4, ohne Sitzenbleiben, ohne den Fokus auf Leistung der Schüler – sollte für Gerechtigkeit sorgen. Hessen war in Person des sozialdemokratischen Kultusministers Ludwig von Friedeburg, der von 1969 bis 1974 amtierte, Vorreiter dieser Bewegung. Gegen den erbitterten Widerstand von Eltern und Lehrern forcierte er auf Kosten der Gymnasien die Bildung von Gesamtschulen. 

Der nächste Schritt in diesem Kulturkampf erfolgte im Okotber 1971 mit der Gründung der ersten Gesamthochschule (GH) in Kassel, mit der ganz im Sinn der seit 1969 im Bund regierenden sozial-liberalen Koalition Willy Brandts die progressive Bildungsideologie nach den Schulen auch die Hochschulen erobern sollte. Erklärtes Ziel der GHs war die Etablierung von mehr „Bildungsgerechtigkeit“ durch den Wegfall des Abiturs als Voraussetzung zum Studium. Die meisten GHs arbeiteten nach dem Y-Modell: Nach einem gemeinsamen Grundstudium folgte ein „Uni-Ast“ und ein „kurzer Ast“ speziell für Studenten ohne Abitur. Durch den Besuch von Brückenkursen wurde es dieser Gruppe ermöglicht, mit dem Erwerb einer fachspezifischen Hochschulreife in den „Uni-Ast“ zu wechseln.

Der Widerstand der Universitäten war immens

Auf den ersten Blick ist die Geschichte der GHs eine Geschichte des völligen Scheiterns. Die Gründung im hessischen Kassel blieb die einzige GH außerhalb Nordrhein-Westfalens, wo Wissenschaftsminister Johannes Rau 1972 fünf GHs vor allem in Kohle- und Stahlregionen, unter anderem in Essen und Wuppertal, gründen ließ. Diese waren Zusammenschlüsse aus Pädagogischen Hochschulen und Fachhochschulen. Der Widerstand der Universitäten war immens. Zu Recht befürchteten sie, früher oder später alle in GHs umgewandelt zu werden. Gerade traditionsbewußte Fachbereiche wie Medizin oder Jura verweigerten sich weitestgehend den GHs – Medizin konnte man nur in Essen studieren, Jura nirgends. Stillschweigend lenkten die Sozialdemokraten ihr Augenmerk bald wieder auf die Förderung der Fachhochschulen. Seit 2003 gibt es keine GHs mehr in NRW, die allesamt in Universitäten unbenannt wurden.

Das Prinzip der GHs hat sich jedoch durchgesetzt. Vermehrt mit der Etablierung der dem „Kasseler Modell“ ähnlichen Bachelorstudiengänge nach der Bologna-Reform wurden die Universitäten ermächtigt, das Abitur nur als einen von vielen Zulassungswegen zu akzeptieren. Der so forcierte Niveauverlust akademischer Bildung auf Kosten höherer Absolventenzahlen ist offensichtlich, wird aber von fast allen Parteien als wünschenswerte Bildungsexpansion gefeiert. Ludwig von Friedeburg hat sich als postumer Sieger erwiesen.